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Zwei Jahre nach dem antisemitischen, antifeministischen und rassistischen Anschlag von Halle

Vor zwei Jahren, am 9. Oktober 2019, versuchte ein Rechtsextremist und Antisemit mit Waffengewalt an Jom Kippur in die Synagoge im Paulusviertel in Halle einzudringen. Dort hatten sich mehr als 60 Jüdinnen:Juden zum Gebet versammelt. Der Attentäter hatte sich zum Ziel gesetzt, am höchsten jüdischen Feiertag möglichst viele Jüdinnen:Juden zu ermorden. Diese, so glaubte er in seinem antisemitischen Wahn, seien verantwortlich für Migration und Feminismus - Phänomene, die der Attentäter zutiefst verachtete.


Zu Beginn seiner Tat leugnete der junge Mann die Shoah. Daraufhin schoss er auf die Holztür des Gotteshauses, die jedoch seinen Schüssen standhielt und sich nicht öffnete. Der Attentäter wandte sich daher ab und erschoss die zufällig vorbeikommende Passantin Jana Lange. Daraufhin suchte er den nahegelegenen Imbiss “Kiezdöner” auf. Dort schoss er auf mehrere Kund:innen und den kurdischen Angestellten. Er verließ kurzzeitig den Imbiss und schoss auf der Straße auf mehrere Passant:innen, die jedoch entkommen konnten. Der Attentäter kehrte in den “Kiezdöner” zurück und erschoss mit mehreren Schüssen den bereits schwer verletzten Kevin Schwarze. Auf seiner anschließenden Flucht fuhr der Attentäter gezielt einen asylsuchenden Mann aus Somalia an, schoss auf Polizeibeamte und verletzte ein Paar mit mehreren Schüssen lebensgefährlich. Schließlich wurde der Attentäter von der Polizei überwältigt und festgenommen.


Die Motive des Attentäters sind geprägt von einem umfassenden Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus, Misogynie und einer ausgeprägten Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen. Der Attentäter war in rechtsextreme Online-Communities eingebunden und fand hier seine ideologischen Vorbilder. Zu diesen gehörten die rechtsextremen Attentäter, die 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya sowie im März 2019 in Christchurch zahlreiche Menschen ermordeten. Der antisemitische Attentäter von Halle glaubte zudem an die rechtsextreme Verschwörungsidee des “Großen Austauschs”.


Der Mythos des “Großen Austauschs” behauptet eine von einer geheimen Elite gesteuerte Migration und Geburtenkontrolle, die zum Ziel hat, die “weiße” Bevölkerung auszutauschen. Befürchtet wird der “Untergang der weißen Bevölkerung”. Diese von antisemitischen Codes durchsetzte Erzählung, gespeist aus antifeministischen und rassistischen, antimuslimischen Motiven, ist besonders im Spektrum der Neuen Rechten populär und wird vielfach von der Identitären Bewegung und weiteren rechtsextremen Akteur:innen propagiert.


Am 21. Juli 2020 begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg, das im Justizgebäude Magdeburg tagte, der Strafprozess gegen den Attentäter. Der Prozess erstreckte sich in 26 Verhandlungstagen über fünf Monate und endete im Dezember 2020 mit der Verurteilung des Angeklagten zu einer lebenslänglichen Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung.


Der Prozess wurde von einem breiten Bündnis dokumentiert. Wir dokumentierten im Juli 2020 eine Pressekonferenz und den Prozessauftakt und sprachen mit dem Anwalt der Nebenklage Juri Goldstein [1]. Neben dem großen Medieninteresse gab es im Verlauf des Prozesses auch zahlreiche Solidaritätskundgebungen für die überlebenden Opfer und gegen Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus. Protokolle der 26 Prozesstage finden sich in dem Buch “Der Halle-Prozess: Mitschriften” [2] und zeichnen so den Prozess und alle Aussagen detailliert nach.


Besondere Bedeutung für den Prozess schrieben Beobachter:innen der Nebenklage zu. 45 Nebenkläger:innen wurden von 23 Anwält:innen vertreten. Immer wieder machten die Nebenklagevertreter:innen im Prozess auf Fehler und Nachlässigkeit in der Ermittlungsarbeit aufmerksam, thematisierten das antisemitische Weltbild des Attentäters und widersprachen den menschenfeindlichen Äußerungen, die dieser im Prozess immer wieder von sich gab.


In seinem Schlusswort zu Gericht leugnete der Attentäter erneut den Holocaust. Zuvor machte er keinen Hehl aus seinem Hass auf Menschen und zeigte sich vor Gericht offen antisemitisch und reuelos. Das geschlossen rechtsextreme und antisemitische Weltbild des Attentäters wurde im Prozess immer wieder deutlich und zeigte sich auch in seinem Schlusswort zu Gericht. Am 21. Dezember 2020 wurde der Täter wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in zahlreichen Fällen schuldig gesprochen. Die Initiative NSU Watch forderte eine umfassende politische Einordnung der Tat durch Gericht und Behörden sowie die juristische Annerkennung von Aftax I. und İsmet Tekin als Betroffene eines versuchten Mordes [3].


Es ist das Verdienst der Zeug:innen und der Nebenklage, dass dieser Prozess nicht zum Schaustück für Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit wurde. Mehrfach wurde dem Weltbild des Täters widersprochen. Auch wenn der Umgang der Presse mit der Darstellung des Täters nicht den Wünschen der Nebenkläger:innen entsprach [4], konnte der Prozess mehrheitlich nicht als Bühne genutzt werden. Dazu beigetragen haben auch diejenigen, die unter den Hashtags #saytheirnames die Namen der Opfer und nicht den des Täters bekannt machten und in Erinnerung halten.


Der Prozess hat auch wiederholt gezeigt: Immer wieder tun sich deutsche Gerichte und Ermittlungsbehörden schwer, die Ideologie von Täter:innen zu erkennen und in gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. Dass es keine rechtsextremen Einzeltäter:innen gibt, muss an dieser Stelle erneut betont werden [5].


Bereits im letzten Jahr wurde in Halle sowohl von offizieller Seite als auch von zivilgesellschaftlicher Seite den Opfern des Anschlags gedacht. Es entstanden mehrere Gedenkinitiativen und Kampagnen zur Unterstützung der Jüdischen Gemeinde und der Betreiber des Kiezdöners.


Künstlerisch setzen sich Talya Feldman und Lou Solomon in ihren Werken mit dem Attentat und ihrer Zeug:innenschaft auseinander. Ein Zusammenschluss mehrerer Künstler:innen und Wissenschaftler:innen gestaltete eine interaktive Online-Karte zum rechtsextremen Terror und rechtsterroristischen Zusammenhängen [6]. Die Schülerin Lidia Ede verarbeitete in ihrem Kunstwerk die Tür der Synagoge und machte sie so zum Ausgangspunkt einer aktiven Erinnerung.


Das Buch “Halle ist überall” von Nea Weissberg und Sharon Adler lässt 20 Frauen zu Wort kommen: Die Frauen erzählen ihre Familiengeschichte, sprechen über Handlungsstrategien und Auswirkungen des Attentats [7]. Überlebende des Anschlags organisierten und beteiligten sich zudem an einer “Ceremony of Resilience”, die im Rahmen eines Festivals, organisiert von BASE Berlin, seit letztem Jahr zur Erinnerung an die Opfer des Anschlags von Halle und anderen rechtsextremistischen Terrorakten stattfindet.


Nach dem Anschlag sahen sich die Besitzer des “Kiezdöner”, Ismet und Rifat Tekin, nicht in der Lage, ihren Imbiss in dergleichen Weise weiter zu betreiben. Mit finanzieller Unterstützung der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) begannen sie, ihr Lokal umzugestalten. Auch die Stadt Halle sagte eine finanzielle Unterstützung zu, zahlte jedoch nach längerer Wartezeit nur einen Teil des zugesagten Geldes aus. Im Sommer 2021 gründete sich daher eine Initiative zur Unterstützung von Ismet und Rifat Tekin. Sie unterstützt die Brüder dabei, den ehemaligen Ort des Anschlags zu einem türkischen Frühstückscafé und damit zu einem Ort der Begegnung und Erinnerung umzubauen [8].


Die jüdische Gemeinde zu Halle sowie weitere jüdische Einrichtungen erwarten nicht erst seit dem Anschlag besseren polizeilichen Schutz ihrer Einrichtungen. Sie erwartet außerdem mehr Engagement der Politik gegen Judenhass und Antisemitismus.


Zum zweiten Jahrestag des Anschlags werden mehrere Veranstaltungen durchgeführt. So wurde in Halle eine Ausstellung von Talya Feldmann eröffnet. In der Stadt finden am zweiten Jahrestag des Anschlags zudem mehrere Gedenkkundgebungen verschiedener Initiativen und Kranzniederlegungen statt. In ganz Deutschland finden derzeit außerdem zahlreiche Vorträge und Podien zu den Themen rechtsextremer Terror und Gedenken statt [9]. Verschiedene Bündnisse haben im ganzen Bundesgebiet mehrere kleine Gedenkkundgebungen angemeldet.


Knapp ein Jahr nach dem Urteil und zwei Jahre nach dem Terroranschlag können wir nicht zur Normalität übergehen und einen Schlussstrich ziehen. Der Kampf gegen Antisemitismus, Rechtsterrorismus, Rassismus und Misogynie muss, wie aktuelle Angriffe auf Jüd:innen und jüdische Einrichtungen und alltägliche Anfeindungen zeigen, weitergehen.


Heute gedenken wir den Opfern Jana Lange und Kevin Schwarze und drücken unsere tiefe Anteilnahme allen Opfern des Attentats, der jüdischen Gemeinde zu Halle, den Betreibern des “Kiezdöner” und seinen Besucher:innen und allen Angehörigen aus.

 

Quellen:

[8] Weiterführende Informationen finden sich bspw. über die Instagram-Seite der Initiative: https://www.instagram.com/kiezdoenerluwu

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