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Zur Gretchenfrage der urgeschichtlich-geschichtlichen Verstrickung


Vom 19. bis zum 21. März fand in Jerusalem das 6th Global Forum on Combating Antisemitism statt. Dort zeigte sich, in welch ambivalenter Position der jüdische Staat und die jüdische Diaspora sich angesichts des weltweiten Antisemitismus befinden.

Tobias Rochlitz, Jerusalem

Die wohl bekannteste Person des Abends musste zwar krankheitsbedingt absagen, aber auch ohne den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hatte der Eröffnungsabend des 6th Global Forum on Combating Antisemitism in Jerusalem prominente Gäste. Neben dem israelischen Minister für Bildung und Angelegenheiten der Diaspora Naftali Bennett sowie der israelischen Justizministerin Ayelet Shaked wandte sich auch der US-amerikanische Botschafter in Israel David Friedman an die Teilnehmenden.

Die von den israelischen Ministerien für Äußeres und für Angelegenheiten der Diaspora organisierte dreitägige Konferenz setzte sich zum Ziel, verschiedenste Manifestationen des globalen Antisemitismus sowie mögliche Gegenstrategien mit internationalen und israelischen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und vor allem der jüdischen Zivilgesellschaft zu diskutieren. Es war damit nach der im Februar in Wien stattfindenden Konferenz An End to Antisemitism! die zweite groß angelegte internationale Veranstaltung innerhalb kürzester Zeit, die sich mit dieser Thematik beschäftigte.

Die gesamte Konferenz veranschaulicht dabei den maßgeblichen Unterschied der akademischen und gesellschaftspolitischen Debatte zwischen Israel auf der einen sowie Europa und besonders Deutschland und Österreich auf der anderen Seite. Während in Deutschland teilweise Veranstaltungen unter dem Label der Bekämpfung des Antisemitismus stattfinden, um hauptsächlich andere Phänomene zu behandeln und dabei stets zu betonen, dass eine „legitime Israelkritik“ möglich sein müsse, präsentiert sich in Israel – wenig überraschend – ein gänzlich anderes Bild. Bei den erheblichen Differenzen, die zwischen den – trotz internationaler Ausrichtung hauptsächlich israelischen bzw. jüdischen – Speakern und Teilnehmenden der Konferenz deutlich zutage treten, gehört ein deutliches Bekenntnis zum jüdischen Staat und seiner militärischen Selbstverteidigung hier zur Selbstverständlichkeit. Dieser Unterschied zwischen dem europäischen und dem israelischen Umgang mit Antisemitismus tritt am deutlichsten bei den Reden der Justizminister Maltas, Griechenlands und Italiens hervor, die sich zum aktuell beliebten politischen Thema der Online Hate Speech äußern. Abschließend unterzeichnen sie mit Ayelet Shaked eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung der Online Hate Speech, die mit großer Wahrscheinlichkeit kein entscheidender Schlag gegen den virulenten Antisemitismus sein dürfte. Der ebenfalls anwesende UN-Sondergesandte für den Friedensprozess im Nahen Osten, Nikolaj Mladenow, kondoliert zwar den Familien der drei kürzlich ermordeten israelischen Terroropfer und kritisiert israelbezogenen Antisemitismus, schweigt aber zum massiven Antisemitismus innerhalb der UN und zum iranischen Atomprogramm. Diese (Nicht)Äußerungen stehen symptomatisch für den Umgang offizieller Vertreterinnen und Vertreter von UN und EU-Staaten, die Antisemitismus zwar dort kritisieren, wo er gesellschaftlich weitestgehend tabuisiert ist, aber schweigen, wenn es um die aktuell größten Bedrohungen für jüdisches Leben geht.

Eines der zentralen Themen der Konferenz ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der europäischen und nordamerikanischen Rechten, der jüdischen Diaspora und dem Staat Israel. Insbesondere steht der Umgang Israels mit jenen Strömungen innerhalb der westlichen extremen Rechten zur Diskussion, die sich pro-israelisch zeigen. Der überwiegende Teil der Speaker und Teilnehmenden scheint darin übereinzustimmen, dass jene pro-israelische Haltung rein taktischer Natur und der Antisemitismus als zentrale Ideologie der europäischen Rechten nach wie vor stark verankert sei. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfene Frage, ob Israel nach seinen Werten oder nach seinen Interessen handeln solle, entgegnet Natan Scharanski, ehemaliger sowjetischer Dissident und Vorstandsvorsitzender der Jewish Agency for Israel: „Es ist nicht die Frage, ob wir unseren Werten oder unseren Interessen folgen. Unsere Interessen sind unsere Werte“. Ariel Muzicant, Vize-Präsident des European Jewish Congress, richtet sich in einem eindringlichen Appell an die israelische Regierung, Kooperationen mit antisemitischen Parteien und Regierungen zu unterlassen und warf der israelischen Regierung diesbezüglich vor: „Israel fällt uns [jüdischen Gemeinden in Europa, Anm. d. A.] in den Rücken. Lassen Sie sich nicht täuschen!“ Muzicant bezieht sich hierbei auf ein Gespräch zwischen Netanjahu und dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz am Rande der Sicherheitskonferenz im Februar in München, auf dem es auch um eine Beendigung des aktuellen Boykotts der FPÖ-geführten Ministerien durch Israel gegangen sein soll. Um seine Warnung zu untermauern, ließ er ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Wien eine kurze Geschichte der FPÖ und ihrem antisemitischen Kern vortragen. Anhand der Debatte über den Umgang mit der europäischen Rechten zeigt sich die Tendenz zum Konflikt zwischen den Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in der Diaspora und der aktuellen israelischen Regierung.

Eine weitere intensive Debatte entfaltet sich um die Frage, wie sich die Einwanderung mehrheitlich muslimischer Menschen in den vergangenen Jahren auf das jüdische Leben in Europa auswirkt. Viele jüdische Gemeinden scheinen hierzu eine ambivalente Haltung einzunehmen, da sie sich auf der einen Seite als Minderheit ähnlichen Angriffen ausgesetzt sehen wie Muslime. Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Großbritannien fasst diese Haltung mit den Worten „Wenn Muslime nicht sicher sind, sind Juden auch nicht sicher“ zusammen. Er fügt jedoch hinzu, dass die Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite in den meisten Fällen islamischen Antisemitismus ignoriere, insbesondere antizionistischen Antisemitismus. Die Meinungen bezüglich dieser ambivalenten Situation scheinen so polarisiert, dass eine sinnvolle und detaillierte Auseinandersetzung mit dem islamischen Antisemitismus nicht zustande kommt. Hieran zeigt sich beispielhaft für die ganze Konferenz, dass dieses Thema sowohl programmatisch als auch inhaltlich vergleichsweise stark unterrepräsentiert ist. Zwar wird islamischer Antisemitismus immer wieder angedeutet, aber nicht konsequent durchdrungen. Auch ein Panel mit islamischen, christlichen und jüdischen Geistlichen bringt diesbezüglich keine Erhellung. Während der Erzbischof von Jerusalem, Leopoldo Girelli, sich hauptsächlich darauf beschränkt, aufzuzählen, wie freundlich Papst Franziskus den Juden gesinnt sei, verliert sich der Vize-Präsident der muslimischen Gemeinde Italiens, Imam Yahya Pallavicini, in einem abstrakten Aufruf zur Verständigung zwischen den Religionen, ohne auf die Spezifik des islamischen Antisemitismus einzugehen. Dabei tendiert er zu der populären These im Umgang mit dem Islam, diesen völlig von gewaltsamen Praktiken loszulösen, indem er behauptet, muslimische Gewalttäter würden ihre Religion nicht kennen. Mit am deutlichsten äußerte sich der Rabbiner Irving Greenblatt diesbezüglich, indem er auf die Verbindung zwischen dem virulenten Antisemitismus in arabischen Staaten und islamisch-theologischen Motiven hinweist. Der Umstand, dass eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Islam nicht stattfindet, ist äußerst bedauerlich, könnte eine ernsthafte Debatte darum doch dazu beitragen, eine emanzipatorische Kritik des Islam von rassistisch motivierter Scheinkritik zu unterscheiden. Zudem zeigt sich nicht nur bei diesem Panel, dass neben dem Bewusstsein für die Notwendigkeit der gewaltsamen Verteidigung gegen den Antisemitismus auch ein starkes Bedürfnis danach vorherrscht, ihm mit Dialog- und Bildungsangeboten zu begegnen. Zwei Panels auf dem Global Forum setzen sich mit linkem Antisemitismus auseinander, maßgeblich in seinen postmodernen Manifestationen. Dabei wird deutlich, dass in Nordamerika und Europa eine massive Gefahr von linken Gruppierungen für Jüdinnen und Juden ausgeht, insbesondere für jene, die sich zum Staat Israel bekennen. Besonders eindrücklich sind die Schilderungen von Gretchen Hammond, die mit ihrem Bericht über den Ausschluss von drei Jüdinnen vom Dyke March 2017 in Chicago internationale Aufmerksamkeit auf den Antisemitismus in der LGBT-Community lenkte. Die drei Jüdinnen führten während der Parade eine Regenbogenflagge mit Davidstern mit sich, was die Veranstalter nicht tolerierten, da die Flagge die anderen Teilnehmenden verunsichere. Aufgrund Hammonds Berichterstattung sah sie sich massiven Angriffen ausgesetzt und verlor schließlich ihren Arbeitsplatz bei der Windy City Times, einer Chicagoer LGBT-Zeitung. Sie geht davon aus, dass der Antisemitismus in der amerikanischen Linken hauptsächlich durch anti-israelische Propaganda an den Universitäten hegemonial geworden sei. Eine tief greifende Auseinandersetzung mit den theoretischen Konzepten der postmodernen Linken findet zwar nicht statt, jedoch sehen sich zentrale Begriffe wie „Pinkwashing“ und Intersektionalität harscher Kritik ausgesetzt. Die Anekdote des israelischen LGBT-Aktivisten James Kirchick, er habe in Anspielung auf den Vorwurf des „Pinkwashing“ bei der Teilnahme an einer Podiumsdiskussion einen Behälter mit pinker Farbe vor sich platziert, sorgt zwar für Lacher unter den Zuhörern, verdeutlicht aber vor allem die Verzweiflung vieler Juden angesichts der antisemitischen Regression in großen Teilen der westlichen Linken.

Eine erstaunliche Tendenz während des Global Forum ist bei dem Versuch einer begrifflichen Bestimmung des Antisemitismus zu beobachten. Während einerseits Rassismus und Antisemitismus häufig gleichgesetzt werden oder Antisemitismus als Unterkategorie des Rassismus vorgestellt wird, plädieren einige dafür, die beiden Phänomene völlig unabhängig voneinander zu betrachten. Insbesondere die Aufforderung des renommierten israelischen Historikers Shlomo Avineri an die Veranstalter der Konferenz, in Zukunft Rassismus in den Titel des Global Forum mit aufzunehmen, ist höchst umstritten. Auch bezüglich dieses Aspekts gelingt es nicht, die Phänomene Antisemitismus und Rassismus sinnvoll zueinander ins Verhältnis zu setzen, sie also weder in eins zu setzen, noch unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen. Des Weiteren rekurriert beispielsweise der US-amerikanische Journalist Yair Rosenberg immer wieder auf den Antisemitismus als Vorurteilsmuster, den er in eine Reihe mit anderen Formen der Diskriminierung stellt. Hierbei fällt besonders auf, dass mit „Islamophobie“ ein zentraler Kampfbegriff des politischen Islams in den westlichen Gesellschaften offenbar so hegemonial geworden ist, dass er auch auf dieser Konferenz starke Verwendung findet, ohne infrage gestellt zu werden.

Die Gretchenfrage des 6th Global Forum for Combating Antisemitism „Wie hältst Du’s mit dem Antisemitismus?“ wurde vor allem deshalb so unterschiedlich beantwortet, da weder auf ein gemeinsames Verständnis des Antisemitismus zurückgegriffen werden konnte, noch sich im Laufe der Konferenz ein solches entwickelte. Trotz der verschiedenen Antisemitismus-Konzepte bestand aber Einigkeit darüber, dass eine Beschäftigung mit dem Antisemitismus seine Bekämpfung notwendig mit einschließt – ein Umstand, der in Deutschland angesichts der systematischen Einbindung von antisemitischen Akteuren in Bildungsprogramme zur „Bekämpfung des Extremismus“ bezweifelt werden kann. Das Global Forum vermochte es darüber hinaus, wichtige Aspekte des gegenwärtigen Antisemitismus zu behandeln, die in Debatten im deutschsprachigen Raum kaum zu finden sind.

Die gesamte Konferenz veranschaulichte, in welch komplexer Situation sich der israelische Staat und die jüdischen Gemeinden weltweit befinden. Die Frage nach den verallgemeinerbaren und spezifischen Aspekten des Antisemitismus, die Frage nach dem Verhältnis zu antisemitischen Akteuren und der möglichen partiellen Kooperation mit ihnen sowie der Wunsch nach Verständigung bei gleichzeitigem Bewusstsein für die Notwendigkeit der Verteidigung; all dies reflektiert auf das Spannungsfeld zwischen Partikularismus und Universalismus, dem jüdische Gemeinden als Minderheit in der Diaspora ausgesetzt sind und die dem Zionismus in seinen verschiedensten Ausrichtungen schon immer inhärent war. Insofern verweist das Global Forum auch auf die Begrenztheit der Möglichkeiten zur Bekämpfung des Antisemitismus in einer Welt, die diese Ideologie systematisch und wiederkehrend hervorbringt. Solange die „urgeschichtlich-geschichtliche Verstrickung“ des Antisemitismus nicht aufgehoben ist, die Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung attestieren, ist die Erfüllung der Forderung An End to Antisemitism!, wie es die Konferenz in Wien im Februar formulierte, nicht in Sicht. Daher ist kaum zu bezweifeln, dass sich auch ein 7th Global Forum on Combating Antisemitism in Jerusalem zusammenfinden wird.



Tobias Rochlitz studiert Soziologie, Politikwissenschaften sowie Ökonomie und hält sich zurzeit am Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebräischen Universität Jerusalem auf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Ideologie-Theorien sowie Theorien und aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus.

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