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"Heißer Herbst" - Demonstrationsgeschehen am 05.09.22 in Leipzig

Aktualisiert: 19. Sept. 2022


Bis zu 4.000 Linke und 1.500 Rechte demonstrierten am Abend des 05.09.2022 am Augustusplatz in Leipzig parallel, aber nicht zusammen, gegen die aktuelle Politik der Bundesregierung. Eine von Rechts im Vorfeld erhoffte gemeinsame Demonstration mit den Linken über die Straßen Leipzig fand nicht statt. Die Rechten hätten dies als vollen Erfolg verbuchen wollen: Zusammen mit links in einer breiten Volksfront gegen „die da oben“, die bereits seit zweieinhalb Jahren ein „genozidales Spritzregime“ (Anselm Lenz bei der rechten Abschlusskundgebung) initiiert hätten. Gemeinsam ein starkes Zeichen setzen: Der „heiße Herbst“ des „Volkes“ hätte einen starken Anfang gefunden.

Dazu kam es allerdings nicht: Die Distanzierung der von der Partei „DIE LINKE“ angemeldeten Kundgebung mit anschließender Demonstration war klar und deutlich zu vernehmen. Und so klar war das gar nicht immer: Anmelder Sören Pellmann hatte zuvor bereits in seiner Partei für Unmut gesorgt, nachdem bekannt wurde, dass auch Sahra Wagenknecht, die in der Vergangenheit durch Querfront-Tendenzen auffiel, sprechen sollte. Dies wurde auch im rechten Spektrum durchaus positiv aufgenommen.


Auf dem Foto sind die Teilnehmende der Kundgebung der "Freien Sachsen" zu sehen. Einige Personen halten Schilder, auf welchen Regierungsmitglieder in Sträflingskleidung zu sehen sind.
Kundgebung der "Freien Sachen" in Leipzig.

Auch dass Pellmann die Versammlung ausgerechnet auf einen Montag legte, einem Tag, der seit einigen Jahren von rechten und rechtsoffenen Bündnissen wie den Montagsmahnwachen für den Frieden, Pegida und aktuell aus dem Querdenken-Spektrum in Beschlag genommen wird, irritierte die eigene Partei. Wagenknecht nahm schlussendlich nicht teil, nach ihrer eigenen Darstellung wurde sie von der Veranstaltung ausgeladen, was die Partei allerdings zurückweist. „Compact“-Chef Jürgen Elsässer machte deutlich, dass die Absage Wagenknechts in der Rechten für Missmut gesorgt haben muss, gilt sie doch Vielen als Querfront-Bindeglied nach links: Nach seiner Rede stimmte er einen Sprechchor „Sahra, Sahra, Sahra“ an, der lautstark Anklang fand. Ganz im Sinne Elsässers seit Jahren andauernden Querfrontbestrebungen sagte er dann in seiner Rede: „Wir brauchen das breite Bündnis aus dem Volk ungeachtet ideologischer Trennungen aus der Vergangenheit.“

Jürgen Elsässer in Leipzig

Wenig Neues, bekannte Provokationen

Insgesamt war es politisch gesehen ein Abend mit wenig Überraschungen – beide Seiten spulten ihr erwartbares Repertoire an Gesellschaftskritik und -analyse ab und kritisierten die Regierung aus teils ähnlichen Gründen. Auffällig war, dass auf keiner der Versammlungen eine solidarische Position zur Ukraine formuliert wurde, vielmehr waren auf beiden Seiten der Teilnehmenden pro-russische Positionen zu vernehmen, die für ein Ende des Gasembargos, die Öffnung der Pipeline NordStream 2 und für den Stopp von Waffenlieferungen plädierten. Besonders skurril wirkte ein realitätsfernes Schild einer Teilnehmerin der Linken-Kundgebung, auf dem ein sofortiger Abzug der NATO aus der Ukraine gefordert wurde.


Im Vorfeld gab es Spekulationen, ob es zu größeren Auseinandersetzungen zwischen den beiden demonstrierenden politischen Spektren kommen würde – immerhin waren sieben Veranstaltungen für den Abend vorgesehen: Neben der Versammlungen der „Freien Sachsen“ und der Partei „Die LINKE. Sachsen“ waren fünf weitere Kundgebungen und Demonstrationen angemeldet. Dazu zählten u.a. zwei antifaschistische Gegenproteste des Bündnisses „Leipzig nimmt Platz” und der Initiative „Soziale Kämpfe“ sowie eine regelmäßig stattfindende Montagsdemonstration aus dem Querdenken-Spektrum der „Bewegung Leipzig“ und eine Kundgebung des AFD Kreisverband Leipzig.


Zu der Kundgebung der vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuften Kleinstpartei „Freie Sachen“ auf dem Augustusplatz um 19 Uhr hatten ebenfalls die AfD und das rechtsextreme „Compact“-Magazin aufgerufen. An der Kundgebung mit dem Titel „Getrennt marschieren, gemeinsam schlagen!“ mit anschließender Demonstration, welche lediglich für zehn Personen angemeldet war, nahmen ca. 150 Personen teil. Um 19:30 schloss sich die Versammlung der „Bewegung Leipzig“ für eine gemeinsame Demonstration über den Leipziger Ring an.


Zeitgleich fand, durch eine Straßenbahnlinie und Hamburger-Gitter getrennt, auf der gegenüberliegenden Seite des Augustusplatz die Versammlung „Heißer Herbst, gegen soziale Kälte! Energie und Essen müssen bezahlbar sein!“ von „Die LINKE. Sachsen“ mit ca. 4.000 Teilnehmenden statt. Es wurden mehrere sozialpolitische Maßnahmen gefordert, die insbesondere Menschen mit einem niedrigen Einkommen entlasten sollten. Die Forderungen umfassten u.a. eine gesetzliche Deckelung der Gas- und Strompreise und eine Aussetzung der Mehrwertsteuer bei Grundnahrungsmitteln.


Der rechte Demonstrationszug über den Leipziger Ring wurde durch mehrere Sitzblockaden aus dem antifaschistischen Spektrum früh blockiert. Nach bereits knapp 500 m musste er daher unterbrochen werden und stand für mehrere Minuten hinter der Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz. Nach mehreren beschwichtigenden Durchsagen der Polizei wurde die Stimmung bei den rechten Demonstranten zunehmend aggressiver, mit der einbrechenden Dunkelheit die Lage auch unübersichtlich. Als die Sitzblockaden den Demonstrationszug zur Rückkehr zwangen, kam es am Rande zu Angriffen auf Journalist:innen und Antifaschist:innen.


Irritierende Szenen spielten sich insbesondere bei den rechten Demonstranten ab, die zeitweise mit Hilfe von Kindern versuchten, Polizeiabsperrungen zu durchbrechen (siehe unser Video). Diese politische Instrumentalisierung von Kindern, zudem in einer potentiell gefährlichen Situation, ist immer wieder im rechten und Querdenkenspektrum vorzufinden. So überraschte es trotz aller Irritation auch nicht, dass auf der Abschlusskundgebung ein 14-jähriger Junge eine agitierte Rede hielt (ebenfalls siehe Video).


Gemeinsamer Protest? Die ausgebliebene Querfront

In ihrem Aufruf suggerierten die Freien Sachsen mit einer Auflistung u.a. von Jürgen Elsässer („Compact“-Magazin), Martin Kohlmann („Freie Sachsen“), Sören Pellmann („DIE LINKE“) und Gregor Gysi („DIE LINKE“) einen Schulterschluss zwischen Rechts und Links. Damit versuchte das rechte Spektrum, einen gemeinsamen Kampf über die politischen Lager hinweg zu inszenieren. Das wurde nicht zuletzt in der Abschlussrede von Anmelderin Anette H. deutlich: „Egal aus welcher Organisation oder Partei – die Not wird uns noch mehr zusammenbringen und ich könnte mir vorstellen, dass wir hier alle zusammen um den Ring gehen“, sagte sie, und setzte sich in die Tradition der Montagsdemonstrationen in der DDR: Bei diesen sei ein Boden geschaffen worden, „auf dem Rechte und Linke gemeinsam durch die Straßen gehen könne“ – und auf dem man heute auch wieder laufe.


Martin Kohlmann („Freie Sachsen“) spricht mit einem Reporter.
Martin Kohlmann („Freie Sachsen“)

Dass traditionell linkspolitische Themen und Strategien auch innerhalb der politischen Rechten und bei Rechtsextremen Verwendung finden, ist kein neues Phänomen. Themen wie Kapitalismuskritik, Globalisierungskritik, Armutsbekämpfung, Ökologie und Naturschutz waren schon immer auch solche, die von rechts völkisch besetzt wurden. Insofern ist es wenig überraschend, dass es in Leipzig im Vorfeld konkrete Versuche von rechts gab, auch öffentlichkeitswirksam eine Querfront zu etablieren und die eigenen Positionen so massenwirksamer verbreiten zu können. Mit dem Argument, die inhaltlichen Differenzen zu ignorieren und einen gemeinsamen politischen Kampf zu führen, sollen kritische Gegenstimmen zum Verstummen gebracht werden, gleichzeitig sollen rechte Positionen normalisiert werden.


Doch „Die LINKE“ übte deutliche Kritik und ging auf die Annäherungsversuche nicht ein. Im Aufruf der Kundgebung von „Die LINKE“ hieß es:


Eine gerechte Gesellschaft, in welcher Freiheit und Gleichheit keine hohle Phrasen mehr sind, kann es nur ohne Rassismus und Nationalismus geben. Da für uns die soziale Frage keine nationale ist, werden Rassisten, Nationalisten und Querdenker sowie deren Fahnen und Transparente vom Platz gestellt”


„Die LINKE“ versucht mit der Wahl des Montags an die Hartz-IV Demonstrationen 2004 anzuknüpfen. Montagsdemonstrationen wurden jedoch in den letzten Jahren von rechten und rechtsextremen Akteuren vereinnahmt und sind in der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch von diesen zu trennen. An die Tradition der Montagsdemonstrationen anzuknüpfen, erscheint daher als fragwürdige Entscheidung.


Die Rede vom „Wutwinter“: Analytische Kurzschlüsse und politische Versäumnisse

Vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine zeichnete sich laut EU-Kommission ein „anhaltendes und kräftiges Wirtschaftswachstum ab“. Dies änderte sich mit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine und stellt die EU vor neue Herausforderungen. Der Krieg führt zu rasant steigenden Energiepreisen und einer Unterbrechung von Lieferketten. Dies hat eine steigende Inflation und eine Erhöhung von Lebensmittelkosten zur Folge. Zudem ist mit einer erneuten Zuspitzung der Corona-Pandemie zu rechnen.


Laut ZDF „Politbarometer“ vom 12. August 2022 bezeichnen 55 Prozent der Befragten ihre eigene finanzielle Situation als gut. Zum Jahresbeginn waren es noch 63 Prozent gewesen; ein Abfall von acht Prozent. 40 Prozent der Befragten gehen sogar davon aus, dass sich ihre wirtschaftliche Lage in einem Jahr verschlechtern wird.


Es ist zu erwarten, dass diese sich zuspitzende Lage im Herbst bei fallenden Temperaturen immer spürbar und zu einem Anstieg an Protesten führen wird. Die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock sprach beispielsweise auf einer Veranstaltung des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) von möglichen „Volksaufständen“. Laut Stephan Kramer, Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, seien die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen ein „Kindergeburtstag“ gegen das, was uns im „kommenden Herbst und Winter“ erwarte.


Diese frühen und warnenden Worte können als eine Reaktion auf Versäumnisse verstanden werden, die zu Beginn der Corona-Pandemie gemacht wurden: Häufig schienen Politik und Polizei überfordert und unvorbereitet angesichts der teils massiven Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es zum jetzigen Zeitpunkt ratsam ist, derartige Prognosen zu stellen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn damit rechte Narrative wiederholt werden.


Krisen stellen für rechte Akteure eine Chance dar, an die realen Ängste von Menschen anzuknüpfen und diese für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren, um so an Einfluss zu gewinnen. Dies hat nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt. Es ist also richtigerweise davon auszugehen, dass rechte Akteure Proteste gegen die steigenden Energiekosten etc. versuchen zu vereinnahmen. Auch für die Protestbewegung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen wird die sich voraussichtlich zuspitzende gesamtgesellschaftliche Lage Anknüpfungspunkte für ihren demokratiefeindlichen Protest bieten, die es zu beobachten gilt.


Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Proteste im Zuge der Energiekrise voreilig pauschalisiert werden sollten. Politischer Protest bringt Kritik auf die Straße und ist nicht nur ein legitimes politisches Mittel, sondern ein integraler Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Gegenwärtig kann man eben noch nicht einschätzen, wie groß die Proteste im Herbst und Winter sein werden und welche Akteure diese dominieren werden. Eine differenzierte Betrachtung ist insbesondere deshalb wichtig, da überstürzte und pauschalisierende Urteile nicht zuletzt auch bei Teilnehmenden der Proteste das Gefühl einer Vorverurteilung zur Folge haben könnten und letztendlich den Rechten in die Karten spielen.


Aktuell in der Berichterstattung immer wieder vorzufindendes Vokabular wie „Wutwinter“ oder teils apokalyptisch anmutende Vorahnungen scheinen Konflikte aber geradezu heraufzubeschwören.


Ausblick

Wie sich das Protestgeschehen im Herbst tatsächlich entwickelt, hängt davon ab, wie schwer der Herbst wird und wie die Politik auf die Lage reagiert. Dass es am 05. September in Leipzig zu keinen größeren Ausschreitungen kam, kann eventuell ein Indiz dafür sein, dass größere Proteste ausbleiben, da die Veranstaltung in den entsprechenden rechten Netzwerken als eine Art „Auftakt“ verstanden wurde. Aber auch hier gilt: Es ist schwierig, genaue Prognosen zu treffen – weshalb die Strategie, bereits jetzt vor teils apokalyptischen Szenarien zu warnen, wenig überzeugt. Vielmehr liegt es an der Politik, das zu tun, was sie eigentlich immer tun sollte: Handeln, damit die Politik der Demokratiefeinde keinen Erfolg zeigt.





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