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Prozess in Berlin endet mit einer Bewährungstrafe für selbsternannten „Volkslehrer“ Nikolai Nerling


Gerichtssaal beim Prozessauftakt stehen Nerling und sein Anwalt mit im Schoß gefalteten Händen vor den Fotograf:innen. Nerling trägt eine grünliches Hemd und einen Torshammer als Kette auf der Brust. Sein Anwalt in Robe.
Nikolai Nerling mit seinem Anwalt Andreas Wölfel vor dem Berliner Gericht

Am 26.8.22 fand am Amtsgericht Tiergarten ein Strafprozess gegen den rechtsextremen Holocaust-Leugner Nikolai Nerling statt. Der ehemalige Grundschullehrer wurde der Öffentlichkeit als YouTuber bekannt, indem er auf seinem Kanal „Der Volkslehrer regelmäßig Videos mit völkischem Gedankengut und nationalsozialistischer Propaganda veröffentlichte. Infolgedessen kündigte ihm die Berliner Schulverwaltung fristlos. Trotz mehrfacher Sperrung seiner Video-Kanäle hat Nerling immer noch eine große Reichweite. In den vergangenen Jahren fiel Nerling wiederholt mit Provokationen auf öffentlichen Veranstaltungen auf, unter anderem störte er solche, die sich für eine offene und diverse Gesellschaft einsetzten.


Die Anklagepunkte

Nun hat die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage in Bezug auf sechs Tatkomplexe aus den Jahren 2017 und 2018 erhoben. Bei einem Vorfall wurde Nerling Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) vorgeworfen, weil er in Begleitung seines Kameramanns 2017 eine Podiumsdiskussion gestört und trotz einer entsprechenden Aufforderung der Veranstalterin den Saal nicht verlassen hatte. Außerdem soll er eine Körperverletzung (§ 223 StGB) zum Nachteil eines Mannes aus dem Publikum begangen haben, der ihn wegen seines Verhaltens konfrontiert habe.

Der zweite Tatkomplex betraf ein Video aus dem Jahr 2018, in dem Nerling die verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck interviewte. In dem Video leugnete Haverbeck abermals die historischen Fakten der Shoah und spielte die Opferzahlen herunter. Nerling widersprach ihr nicht und nickte während des Videos zustimmend. Das Video lud er dann bei YouTube hoch. Die Staatsanwaltschaft warf ihm aufgrund dessen Volksverhetzung (§ 130 StGB) vor.

In einem weiteren Video aus dem Jahr 2018 verhöhnte Nerling einen Juden, der ihn zuvor in E-Mails kritisiert und bei dessen Bank eine Kontosperrung erwirkt hatte. In dem Video äußerte sich Nerling in abfälliger Weise unter Nennung des vollständigen Namens über den Mann und stellte einen Bezug zu dessen jüdischem Glauben her. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn wegen Beleidigung (§ 185 StGB) an. Nerling wurde weiterhin die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) zur Last gelegt. Dieser Vorwurf beruhte auf einem Video aus dem Jahr 2018, in dem Nerling neben einem Plakat posiert – dabei hat er einen Arm zum sog. deutschen Gruß (Hitlergruß) erhoben.

Im fünften Tatkomplex wurde ihm vorgeworfen, ein Telefonat mit den Veranstalter:innen eines Fests für Zivilcourage ohne deren Einverständnis aufgenommen und veröffentlicht zu haben. Die Staatsanwaltschaft erhob deswegen Anklage wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes (§ 201 StGB).


Daneben erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Volksverhetzung in einem weiteren Fall sowie wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB): In einem Video aus 2018 kommentierte Nerling die Gedenktafel an einem Kriegsdenkmal in Lüneburg und hinterfragte dabei die Kriegsverbrechen der 110. Infanteriedivision, der das Denkmal gewidmet war. Schließlich umwickelte er die Gedenktafel, die über die Verbrechen der Division aufklärte, mit Panzertape, sodass ihre Aufschrift nicht mehr lesbar war.


Der Prozess

Nerling wurde von Andreas Wölfel, einem Anwalt der rechtsextremen Szene, vertreten. Neben zahlreichen Pressevertreter:innen waren auch etwa ein Dutzend Unterstützer:innen Nerlings angereist, darunter die NPD-Kader Uwe Meenen und Dietmar Hömke sowie der Rechtsextremist und Reichsbürger Dennis Ingo Schulz. Letzterer hatte ein Geschenk für Nerling mitgebracht, dessen Geburtstag auf den Prozesstag fiel. Während des Prozesses lächelte Nerling in Richtung der Personen auf der Zuschauertribüne und winkte einigen von ihnen zu. Die Verhandlung fand in einem besonders gesicherten Bereich des Amtsgerichts statt. Schon zu Beginn der Verhandlung warnte der vorsitzende Richter die Anwesenden, er werde keine Störungen dulden und Personen, die die Verhandlungen durch Zwischenrufe oder Reaktionen wie Klatschen oder Lachen unterbrechen, des Saales verweisen. Daraufhin blieb es den gesamten Prozess über ruhig.


Zu den verschiedenen Anklagepunkten wurden mehrere Zeug:innen vernommen. Hauptsächlich handelte es sich dabei um die von den angeklagten Taten direkt Betroffenen, wie den Mann, den Nerling in seinem Video verächtlich gemacht hatte, und die beiden Veranstalter:innen des Festes für Zivilcourage. Der Zeuge, der namentlich in Nerlings Video genannt und herabgewürdigt wurde, gab einen Einblick in die Konsequenzen, die Nerlings Online-Reichweite für seine Gegner:innen hat. Er gab an, seit der Veröffentlichung des Videos werde ein Mann, der den gleichen Namen wie er trage, aber bekannter sei, von scheinbaren Anhänger:innen Nerlings mit Hassnachrichten überhäuft. Weiter wurde auch ein Beamter des LKA vernommen, der zu einer Durchsuchung in Nerlings Wohung aussagte und beschrieb, wie er Nerling im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit erlebt hatte. Er sagte aus, dass es sich bei Nerling nicht um einen typischen Rechtsextremen handele, denn Nerling mache einen gebildeten und eloquenten Eindruck. Seine Gesinnung sei jedoch im klassischen Sinne völkisch-rechtsextrem. Im Rahmen der Beweisaufnahme wurden außerdem die benannten Videos abgespielt. Die den Holocaust relativierenden Äußerungen Haverbecks sowie der Auftritt Nerlings, als er die Podiumsdiskussion störte, riefen bei seinen Anhänger:innen Lächeln und zustimmendes Nicken hervor. Der vorsitzende Richter verlas Ausschnitte aus zwei Urteilen. Im ersten war Nerling wegen seiner herabwürdigenden Äußerungen gegenüber dem jüdischen Mann von einer Zivilkammer zur Unterlassung der getätigten Äußerungen verurteilt worden. Im zweiten Urteil war Ursula Haverbeck wegen der Aussagen in dem mit Nerling gedrehten Video wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Beide Urteile sind mittlerweile rechtskräftig, d.h. sie können nicht mehr angegriffen werden.


Unter Ausschluss der Öffentlichkeit führten Richter, Staatsanwalt und Verteidiger ein Rechtsgespräch. Darin ging es scheinbar um die Vorwürfe der Körperverletzung und Sachbeschädigung. Für diese Vorwürfe hatte die Beweisaufnahme keine hinreichenden Beweise erbracht. Diese Vorwürfe wurden dann von der Staatsanwaltschaft in ihrem Schlussplädoyer fallengelassen, diesbezüglich wurde Nerling auch nicht verurteilt.


Auftreten und Äußerungen Nerlings

Im Vergleich zum provokanten und teils aggressiven Verhalten Nerlings vor der Kamera und im Gespräch mit politischen Gegner:innen verhielt sich Nerling während des Prozesses eher unauffällig, womöglich auf Anraten seines Verteidigers. Er störte den Ablauf des Prozesses nicht und redete nur dann, wenn er vom Vorsitzenden dazu aufgefordert wurde. Dann stellte er seine Position jedoch sehr ausführlich dar und nutzte die Gelegenheit, um sich als Kämpfer für die Rechte des „deutschen Volkes und als von staatlicher Repression Betroffener zu inszenieren. Nerlings Behauptung, in Deutschland herrsche eine „antigermanische” Stimmung und Personen des rechten Spektrums seien als „diskriminierte Minderheit” von Ausgrenzung betroffen, zog sich wie ein roter Faden durch seine Äußerungen. Generell zeigte er keinerlei Einsicht in Bezug auf die Taten, die ihm zur Last gelegt wurden. Nerling versuchte, jeden Vorwurf gegen sich so darzustellen, als vertrete er lediglich eine kontroverse Meinung und werde deshalb vom Staat und der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt.


In Bezug auf die Störung der Anti-AfD-Podiumsdiskussion präsentierte Nerling sich als Opfer, das sich nur an der Diskussion habe beteiligen wollen und wegen seiner Meinung der Veranstaltung verwiesen worden sei. Dabei hatte Nerling mit rassistischen Äußerungen provoziert und dazu aufgefordert, die Grenzen wegen einer vermeintlichen „Überfremdung” zu schließen. Er konnte dann jedoch nicht erklären, warum er den gesamten Vorfall gefilmt und online veröffentlicht hatte, wenn es ihm nur um einen Austausch von Meinungen gegangen sei.


Bezogen auf das Interview mit Haverbeck gab sich Nerling unwissend. Ihm sei zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, dass die in dem Video getätigten Äußerungen strafbar seien. Den Paragraphen der Volksverhetzung habe er zwar gekannt, jedoch erst 2020 mit dem Urteil wegen Volksverhetzung aufgrund seines Verhaltens an dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau im Detail Kenntnis vom Vorwurf der Volksverhetzung bekommen. Dem steht jedoch ein Foto von Nerling auf einer Versammlung entgegen, das aus dem Jahr 2016 stammt, also aus der Zeit vor dem Interview mit Ursula Haverbeck.¹ Auf dem Foto trägt Nerling ein Plakat, mit dem er die Abschaffung des Volksverhetzungs-Paragraphen fordert. Auf dem Plakat befindet sich ein Zitat des Holocaust-Leugners Horst Mahler: „Willst du wissen, wer dich beherrscht? Frage nach, wen du nicht kritisieren darfst!” Dieses Zitat nimmt damit Bezug auf den Paragraphen im StGB, der die Billigung, Leugnung und Verharmlosung der Shoah sowie die Verherrlichung der NS-Herrschaft unter Strafe stellt. Das Zitat stellt eine Täter-Opfer-Umkehr dar und impliziert, dass Jüdinnen und Juden – die im Rahmen der Shoah zu Millionen ermordet wurden – die Kontrolle über die heutige Gesellschaft innehätten, weshalb man die historische Wahrheit nicht hinterfragen dürfe.


Auch bezüglich des Vorwurfs der Beleidigung eines jüdischen Mannes zeigte Nerling sich uneinsichtig. Er behauptete, der Mann habe ihm zuvor „freche” E-Mails geschickt und wer austeile, müsse auch einstecken können. Er habe keine Abneigung gegen Juden und nicht gedacht, dass sich der Betroffene durch den Inhalt des Videos herabgewürdigt fühlen könnte. Insgesamt versuchte Nerling, den Vorwurf des Antisemitismus von sich zu weisen. Dies gelang ihm jedoch nicht. Die Staatsanwaltschaft hob mehrere Kommentare unter dem Video hervor, in denen User:innen sich über „jüdische” Namen ausgelassen oder eine angebliche jüdische Weltverschwörung gewittert hatten.

Als es um das Zeigen des sog. deutschen Grußes ging, versuchte Nerling, sich als Freiheitskämpfer zu inszenieren. Mit dem sog. deutschen Gruß vor dem Plakat einer Werbekampagne, die sich für eine weltoffene Stadt Berlin einsetzte, habe er künstlerisch darstellen wollen, dass die in Deutschland herrschende Meinungsfreiheit bloß Makulatur sei, denn „wehe, man bezieht sich auf eine bestimmte Zeit in einem positiven Sinn”. Seine Aktion sei als Kritik und Satire gedacht gewesen, er habe damit jedoch nicht die NS-Zeit glorifizieren wollen. Diese Behauptung erscheint wenig glaubhaft. Der LKA-Beamte, der als Zeuge geladen war, sagte aus, in Nerlings Wohnung seien neben einem Laptop und Datenträgern auch NS-Devotionalien gefunden worden. Bei der Einordnung als Kritik und Satire, wie Nerling seine Aktion im Video selbst bezeichnete, handelt es sich also scheinbar um eine reine Schutzbehauptung.

Diese Art der Schutzbehauptungen wurde auch im Rahmen von Nerlings Äußerungen zum Mitschnitt des Telefonats und in Bezug auf die Verhüllung der Gedenktafel deutlich. Abermals verdrehte er sein eigenes Handeln zur Zivilcourage.


Plädoyers und Urteil

Die Staatsanwaltschaft nahm in ihrem Abschlussplädoyer von den Vorwürfen der Körperverletzung und Sachbeschädigung Abstand, forderte jedoch für die übrigen Tatvorwürfe eine Verurteilung. Sie beantragte eine Bewährungsstrafe von 11 Monaten verbunden mit der Auflage, eine Zahlung an eine gemeinnützige Organisation wie die Amadeu Antonio-Stiftung zu leisten. Bemerkenswert war, dass die Staatsanwaltschaft für die angeklagte Beleidigung Antisemitismus als Motiv für die Tat annahm und forderte, dieses Motiv als strafschärfenden Umstand im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. Nerling bewege sich stets auf einer „Rasierklinge” der Strafbarkeit mit dem Ziel, den Diskurs nach rechts zu verschieben und seine antisemitische und völkische Ideologie zu normalisieren.


Die Verteidigung räumte die Volksverhetzung im Fall des Videos mit Ursula Haverbeck sowie das unerlaubte Mitschneiden des Telefonats ein, beantragte jedoch für die restlichen Taten Freispruch. Dabei rechtfertigte sie Nerlings Verhalten mit der Meinungs- und Kunstfreiheit und argumentierte, dass auch eine von der Mehrheitsmeinung abweichende Haltung diesen Schutz genießen müsse. Den rechtsextremen und antisemitischen Hintergrund der Taten spielte sein Verteidiger Wölfel herunter und beantragte die Verhängung einer Geldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen zu je 40 €.


Nerling wurde nach den Plädoyers das letzte Wort gewährt. Er gab an, eine Entschuldigung nicht für nötig zu halten, denn er könne niemanden erkennen, dem er geschadet habe. Dem jüdischen Mann, den er öffentlich bloßgestellt und herabgewürdigt hatte, attestierte er wegen dessen Bemühen um eine Kontosperrung bei seiner Bank eine „menschenfeindliche Einstellung”.


Der Richter ließ sich auf Nerlings Schutzbehauptungen nicht ein und verkündete das Urteil: eine Gesamtstrafe von neun Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von drei Jahren. Außerdem muss er 3000 € an die Amadeu Antonio-Stiftung zahlen, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzt. Als der Richter die Geldauflage verkündete, ging ein Raunen durch die Reihen von Nerlings Unterstützer:innen. Es entstand der Eindruck, dass sie mit der Finanzspritze für die Amadeu Antonio-Stiftung nicht glücklich waren. In seiner Urteilsbegründung ordnete der Richter Nerlings Handeln ein und nannte beispielsweise die Behauptung Nerlings, der von ihm verächtlich gemachte jüdische Mann habe die Beleidigung selbst zu verantworten, zynisch. Außerdem stellte der Richter fest, Nerling habe bewusst mit seinen Aktionen provoziert und die Öffentlichkeit gesucht, um in der rechten Szene Anklang zu finden.


Zusammenfassung

Bei dem Prozess war bemerkenswert, dass die Staatsanwaltschaft und der Richter die rechtsextreme und antisemitische Weltanschauung Nerlings erkannten und in ihrer Bewertung der Taten berücksichtigten. Die vorgebrachte Rechtfertigung Nerlings mit der Meinungs- und Kunstfreiheit sowie seine Selbstdarstellung als unterdrückte Stimme einer angeblich „schweigenden Mehrheit” wurde als Schutzbehauptung deutlich zurückgewiesen. Vielmehr hob das Gericht in dem Urteil seine national-völkische Gesinnung und seinen Geschichtsrevisionismus hervor. Positiv anzumerken ist auch, dass die Justiz Nerling nun eine Grenze zu seinen bisher straflosen Provokationen aufgezeigt hat. Auch wenn die Bewährungsstrafe in Anbetracht seines öffentlichen Auftretens in der Vergangenheit mild erscheinen mag, war sie zu erwarten. Denn Nerling war zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch nicht vorbestraft. Für einen Ersttäter wäre eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung ungewöhnlich gewesen. Sollte Nerling in den nächsten drei Jahren gegen die Bewährungsauflagen verstoßen, muss er eine Haftstrafe antreten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, sowohl er als auch die Staatsanwaltschaft können die Entscheidung noch anfechten.


Nerling bekommt von Dennis Ingo Schulz ein Geschenk in bunter Folie gewickelt überreicht.
Wegen starkem Regen gratulierte man Nerling nach Urteilsverkündung unter einem Baugerüst.

¹ Das Foto stammt vom RechercheNetzwerk Berlin und ist bei Flickr verfügbar: https://www.flickr.com/photos/recherche-netzwerk-berlin/30283982925/in/album-72157671640311543/

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