Nach zwei Jahren Pause fand vom 03.–06.06.2022 der Kongress „Marx is’ muss“ der Plattform Marx21, der trotzkistischen Plattform innerhalb der Partei Die Linke, in Präsenz statt. Die vorigen Jahre konnte der Kongress lediglich online stattfinden. In über 100 Vorträgen, aufgeteilt in 13 Panels, diskutierte man am Pfingstwochenende im Verlagshaus des Neuen Deutschland in Berlin-Friedrichshain über die Neuausrichtung linker Politik und Strategie in einer ausklingenden Corona-Pandemie. Es gab Panels zu Themen wie „Gewerkschaft & Klassenkampf“, „Ökologie“, „Antirassismus und Antifaschismus“ oder linker Geschichte. Der Kongress stand unter der Leitfrage: „Wie entwickeln wir nach zwei Jahren politischer Arbeit unter Corona-Bedingungen Antworten auf diese Herausforderungen? Wie werden wir so stark, dass wir die anstehenden Kämpfe tatsächlich gewinnen?“ Die Organisator:innen schlugen vor, diese Fragen in folgendem Format anzugehen: „Wir wollen aktuelle Debatten führen, aus erfolgreichen Kämpfen lernen und uns für die anstehenden politischen Auseinandersetzungen vorbereiten und vernetzen.“ [1] Vorträge am Sonntag waren zum Beispiel „Sexismus, Sozialismus und der Staat: Frauen im Ostblock“, „Was heißt hier eigentlich Nachhaltigkeit“, „Ist Marx’ Werk eurozentrisch?“, „Jobs oder Klima: müssen wir uns wirklich entscheiden?“ oder „20 Jahre NATO-Krieg in Afghanistan – eine Bilanz“.
Ein ganzes Panel des Kongresses wurde dem Thema „Palästina“ gewidmet. Bereits im Vorfeld freute man sich auf dem YouTube-Kanal von „99 zu Eins“, dass auch in diesem Panel große Namen, wie Ilan Pappe und Helga Baumgarten vertreten sein würden. [2] Pappe diskutierte am Samstag mit Michael Sappir und Maya Ashash, ob Israels Linke „Teil der Befreiung Palästinas sein könne“. Am Sonntag wurde sich mehrfach in Diskussionen auf dieses Podium bezogen. Offensichtlich hatte man die Frage so beantwortet, dass die israelische Linke „Teil der Befreiung“ sein könne, wenn sie sich vom zionistischen Grundkonsens innerhalb Israels lossage. Außerdem wurde auf dem Panel über BDS und Palästinasolidarität im Allgemeinen diskutiert.
Baumgartens Vortrag beschäftigte sich mit der Hamas und stellte den inhaltlich problematischsten Beitrag dieses Panels dar. Zwar in einem anderen Panel angesiedelt und zeitlich erst nach diesen Vortrag, kann man Jules El-Khatibs Einlassungen zum politischen Islam als eine thematische Einleitung zur Darstellung Baumgartens lesen.
Der Titel des Vortrages von Jules El-Khatib, Landessprecher von Die Linke NRW, suggerierte, dass es dort um die Erörterung einer Frage gehen würde. El-Khatib trug im Panel Antirassismus und Antifaschismus zum Thema „‘Politischer Islam’: Ein Kampfbegriff?“ vor. Aufgrund der Wortwahl konnten Beobachter:innen den Eindruck gewinnen, es handele sich um eine abwägende Erörterung dieser Frage. Tatsächlich stufte El-Khatib den Begriff aber ohne den Einbezug von durchaus vorhandenen Gegenpositionen als Kampfbegriff ein und forderte, ihn nicht zu verwenden.
El-Khatib führte zu Beginn verschiedene Arten der Verwendung des Begriffs in Skandinavien, Deutschland, Österreich und Frankreich innerhalb verschiedener Sicherheitsbehörden an. Ohne genau angeben zu können, welche Definitionen diesen Verwendungen zugrunde liegen, schloss El-Khatib damit, den Zuhörer:innen zu empfehlen, die Debatte ad acta zu legen. Alles sei sehr schwammig an diesem Begriff, was man daran sehen könne, dass er so unterschiedliche Gruppierungen wie die offen terroristischen afghanischen Taliban, die ägyptische Muslimbruderschaft und die legalistische tunesische Ennahdapartei einschließe.
Anstatt eine kritische Bestimmung dessen zu liefern, was als Politischer Islam verstanden werden könnte und dabei zu problematisieren, was an der Verwendung beispielsweise seitens verschiedener Behörden problematisch ist, optierte El-Khatib lediglich dafür ihn nicht zu verwenden. Er reduzierte den Begriff vielmehr darauf, dass er allgemein dazu diene, Menschen muslimischen Glaubens „aus dem öffentlichen Leben zu drängen“.
Der Vorwurf gegenüber europäischen Sicherheitsbehörden, dass diese in ihren Praktiken mitunter rassistisch seien, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Dies liegt im spezifischen Fall allerdings nicht an der Kombination der Worte ‘politisch’ und ‘Islam’. Zuerst hat diese Wortkombination eine je zu bestimmende Bedeutung, die einzelne Aspekte in den Vordergrund stellt. Aus der Bedeutung allein lässt sich allerdings noch kein Rassismus ableiten. Es fehlt etwas Hinzutretendes, hier eine politische Agenda, die von El-Khatib in den Begriff selbst gelegt wird. Er behauptete, die Verwendung des Begriffs Politischer Islam bedeute immer eine Vereinheitlichung aller Muslime, die sich politisch äußerten, weil er in der öffentlichen Debatte den Begriff des Islamismus abgelöst habe. Dabei meint der Begriff in den meisten Debatten zuvorderst eine Form der Politik, die ihre Inhalte dann zu bestimmenden Anteilen aus dem Islam bezieht, bzw. einen Islam, der sich politisch äußert.
Es bleibt zu fragen, was hinter einer solch verzerrenden Darstellung einer durchaus differenzierten Debatte über den Begriff des Politischen Islam steht. El-Khatib bestimmte sowohl die globale Linke als auch „Muslime“ als Feind der westlichen Sicherheitsapparate, obwohl er zuvor noch betonte, dass es „den Islam“ und „die Muslim:innen“ gar nicht wirklich gebe. Weil beide in ihrer freien Betätigung von diesen behindert seien, müssten sie also gemeinsam gegen diese Apparate ankämpfen; eine Behauptung, die oft auch aus dem Publikum wiederholt wurde. Die Motivation scheint also strategischer Natur zu sein: Muslim:innen sollen agitiert werden, nicht indem man sie evtl. darin bekräftigt, sich von Religion als tonangebend in ihrem Leben zu emanzipieren, wie das etwa eine Marxsche Herangehensweise gewesen wäre.
Liest man diesen Vortrag eben als Präludium für den von Helga Baumgarten, ergeben sich verschiedene Ähnlichkeiten. Während El-Khatib der allgemeinen Verwirrung über den Politischen Islam das Wort redete, versuchte Baumgarten den politischen Islam der Hamas von ihrem Antisemitismus frei zu sprechen. Während die Soziologin Ulrike Marz etwa innerhalb diverser Debatten um die Begriffsbestimmung des Islamismus bzw. des politischen Islam den Antisemitismus als Konstante ausgibt, [3] fragt El-Khatib gar nicht nach den Gemeinsamkeiten innerhalb der von ihm angeführten Erscheinungen. Baumgarten meint zwar durchaus, dass es einen politischen Islam gibt. Nur behauptet sie auch, dass dieser mehrheitlich nicht antisemitisch sei, sondern eine politische Widerstandsbewegung darstelle.
Die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten war einer größeren Öffentlichkeit zuletzt im Mai 2021 bekannt geworden, als sie im ZDF-Mittagsmagazin als „Nahostexpertin“ eingeladen wurde, um die damaligen Kampfhandlungen zwischen der Hamas und Israel zu kommentieren. Dort hatte sie eine über fünfminütige Tirade auf Israel abgelassen, ohne dass sie von der Moderatorin nennenswert dabei behindert worden wäre. Dies kritisierten verschiedene Medien lautstark. Es wurde die Frage gestellt, ob Baumgarten aufgrund ihrer Positionen überhaupt als Expertin in diesem Bereich gelten könne. [4]
In ihrem zugeschalteten Online-Vortrag gab Baumgarten hauptsächlich Thesen ihrer Publikationen über die Hamas und ihres letzten Buches über den langen Krieg gegen Gaza wieder.
In ihrem Buch über den politischen Islam in Palästina unternimmt Baumgarten den Versuch, die Entstehung der Hamas folgendermaßen zu erklären:
„Der politische Islam repräsentiert als Gesamtbewegung seit den achtziger Jahren den Versuch, die eigene Identität des islamischen Südens gegen vom Norden aufgezwungene Identitäten auf allen Ebenen durchzusetzen. Dazu gehört nicht zuletzt die Überwindung der Demütigungen, die den Muslimen von ihren Beherrschern aus dem Norden, vor allem während des Kolonialismus, zugefügt wurden.“ [5]
Der Politische Islam, also auch der der Hamas, lässt sich laut Baumgarten aus dem Kampf gegen die Demütigungen, die nach dem Zitat seit dem Kolonialismus fortbestehen sollen, erklären. Dabei geht es dem Politischen Islam bloß um die Wiedererrichtung einer islamischen Identität:
„Teil dieses Emanzipationsprozesses ist der Versuch, eine eigene, endogene und authentische, und damit letztlich im Islam verankerte Entwicklung, ja Modernisierung in Gang zu setzen. Dieser Versuch läuft nicht geradlinig ab, birgt in sich viele Widersprüche, ist aber als Versuch anzuerkennen. Organisationen, die sich auf die Muslimbruderschaft berufen, repräsentieren heute die gemäßigte und zur Integration in die Politik bereite Variante des politischen Islam. Sie sind also im Unterschied zu den ‘Dschihadisten’ des Osama Bin Laden ‘Legalisten’.“ [6]
Baumgartens Buch über die Hamas ist im Grunde daraufhin angelegt, die Hamas als eine eigentlich friedliche Bewegung innerhalb der Muslimbruderschaft zu bestimmen, die die Errichtung einer authentischen islamischen Identität mit den Mitteln der legalen politischen Betätigung erreichen wolle. Dass die Hamas mitunter terroristische Gewalt anwendet, erklärt Baumgarten im Vorwort ihres neuesten Buches und im Vortrag so:
„In den westlichen Medien, vor allem aber in der deutschsprachigen Presse, wird die Hamas zusammen mit den anderen Gruppierungen in Gaza als Angreifer gebrandmarkt, gegen den sich Israel wehren muss, um seine Bevölkerung zu schützen. Nelson Mandela schrieb dazu in seinen Memoiren, dass es immer der Unterdrücker - nicht der Unterdrückte - ist, der diktiert, welche Form der Kampf annimmt. Wenn der Unterdrücker Gewalt anwendet, dann haben die Unterdrückten keine andere Wahl, als mit Gewalt zu antworten.“ [7]
Die Gemengelage ist also klar: Die unterdrückten Araber:innen wehren sich in den Augen Baumgartens bloß gegen die Besatzung Palästinas durch die zionistische Einwanderung. Baumgarten datiert diese „Besatzung“ bereits auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. [8] Die Mittel würden bei dieser Erwehrung von Israel vorgegeben, da die Hamas bloß nicht näher bestimmte Identitäten wieder herstellen wolle. Seit dem späten 19. Jahrhundert sei das palästinensische Volk demnach bei der Ausbildung seiner eigenen ihm gemäßen Identität gestört. Mit der Intensivierung der Besatzung, intensivierten sich auch die Mittel des Widerstandes. Die Geschichte der Hamas, so Baumgarten, müsse in diesem Zusammenhang dargestellt werden.
In ihrem Vortrag wiederholte Baumgarten eine These, die sie auch in einem Vorabinterview mit Marx21 geäußert hatte. Die Geschichte der Palästinenser:innen sei ganz allgemein eine Geschichte des Widerstandes. [9] Darüber, wie dieser Widerstand im Einzelnen ausgestaltet wurde, erfährt man vorerst nur wenig. In der Betrachtung des sogenannten arabischen Aufstandes und dessen Bewertung fallen einige eigenwillige Interpretationen auf.
Die Hamas hatte sich während der ersten sogenannten Intifada 1987 als Ableger der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft gegründet, wie es auch Baumgarten darstellt. [10] Sie begrenzt die politische Agenda der Muslimbrüder allerdings auf eine reine Gegnerschaft gegen den britischen Kolonialismus, im Mandatsgebiet Palästina sei diese Gegnerschaft zudem gegen die zionistische Einwanderung gerichtet gewesen. Den sogenannten arabischen Aufstand zwischen 1936 und 1939 im Mandatsgebiet Palästina bewertet Baumgarten dementsprechend als authentischen „historischen Vorläufer“ der Intifada oder gar als „palästinensische Revolution“. [11] Dort hätten sich ausschließlich palästinensische Bauern gegen Fremdherrschaft erhoben.
Liest man allerdings in Nathan Weinstocks Studie Der zerrissene Faden nach, ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. Die Opfer dieses arabischen Aufstandes waren vor allem orthodoxe Jüdinnen:Juden, die bereits vor den größeren Einwanderungswellen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Mandatsgebiet lebten. [12] Als orthodoxe Jüdinnen:Juden lehnten sie zudem den modernen politischen Zionismus als zu weltlich ab. Man muss sich die Frage stellen, wie es sein kann, dass sich ein Aufstand, der sich gegen Einwanderung und Kolonialismus richten soll, diejenigen angreift, die überhaupt nichts damit zu tun haben.
Baumgartens Studie über die Hamas von 2006 gibt Aufschluss darüber, wie die Autorin zu einer solchen Einschätzung kommt. Es ist bemerkenswert, dass eine Studie, die es sich in gewisser Weise zur Aufgabe gemacht hat, das Bild über die Hamas ‘zurechtzurücken’, ihre intellektuellen Gegenspieler:innen nicht kritisch behandelt oder kommentiert, sondern sie einfach ignoriert. Entgegen der These Baumgartens, dass sich der Antisemitismus der Muslimbruderschaft erst mit der Staatsgründung Israels als Abwehr des jüdischen Staates entwickle [13], zeigt der Politikwissenschaftler Matthias Küntzel in seiner Studie Djihad und Judenhaß von 2002, dass die Gründung sehr wohl eine Reaktion auf die Moderne sei:
„[Es] ist festzuhalten, da[ss] der Aufschwung des Faschismus und der Aufstieg des Islamismus in dieselbe Zeit fielen. Dies war kein Zufall, stellten doch beide Bewegungen den Versuch einer Antwort auf die Zuspitzung der kapitalistischen Krise dar. So unterschiedlich die faschistische und islamistische Antwort auch ausfielen, stimmten beide Bewegungen in einem Punkt überein: Hier wie dort wurden volksgemeinschaftliche Identität und umma-Gefühl durch Kriegs- und Pogrommobilisierung gegen die Juden formiert.“ [14]
So seien schon die Ausschreitungen der Muslimbrüder im Kairo der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts der gerade gegründeten Bruderschaft antisemitisch motiviert gewesen. Diese wendeten sich gegen die vermeintlich zersetzende Macht von Nachtclubs, Bordellen und Filmtheatern sowie gegen Geschäfte, die Alkohol verkauften. [15] Der Antisemitismus, so argumentiert Küntzel, ist kein Hinzutretendes zum Politischen Islam, sondern bildet seinen Kern, da in der Ideologie der Muslimbruderschaft die Moderne mit Jüdinnen:Juden assoziert wurde. Baumgarten wiederholte in ihrem Vortrag die These, dass gewissermaßen erst in der Charta der Hamas, erstmalig veröffentlicht im Jahr 1988, Antisemitismus festzustellen sei. [16] Bezüglich dieses Gründungsmanifests behauptet sie allerdings, dass es an der Basis der Hamas kaum eine Rolle spiele. Belege für diese Behauptung liefert Baumgarten nicht.
Irritierend erscheint auch, dass es laut Baumgartens Vortrag in der erneuerten Charta aus dem Jahr 2017 keinen Antisemitismus mehr gebe. In Paragraph 35 wird immer noch die Zentralität der palästinensische Sache für die gesamte arabische und islamische Umma dargestellt. [17] Zwar ist der neuere Text der Charta weniger radikal formuliert, in diesem Punkt doch sehr ähnlich. Wenn nämlich Palästina „the central cause“ für die arabische Umma bleibt, dann ist unklar, wie sich die Agenda von der älteren Charta unterscheiden soll. Im 11. Artikel der Charta von 1988 wird Palästina nämlich als ein islamisches Rechtsinstitut bestimmt. Nach seiner Eroberung soll es „bis zum Tag der Auferstehung“ Eigentum der Eroberer sein. „Dieses Waqf [Rechtsinstitut] bleibt, solange Himmel und Erde bleiben, und jedes Verhalten, das diesem Gesetz des Islam im Hinblick auf Palästina widerspricht, ist ein nichtiges, auf seiner Urheber zurückfallendes Verhalten.“ [18] Der israelische Staat und seiner Bewohner:innen müssen also laut dieser Bestimmung als „nichtig“ gelten. Der Zerfall der Umma wird als Resultat zionistischer Besiedelung verstanden und ist deshalb zentral für die Erzählung einer allgemeinen Zersetzung des Islam durch Jüdinnen:Juden oder wahlweise durch den Zionismus.
Laut Küntzel ist die ältere Charta, die im direkten Nachgang der ersten Intifada entstand, Resultat der ideologischen und politischen Tätigkeit der Muslimbruderschaft in Palästina zwischen ihrer Gründung 1928 und der Gründung der Hamas 1987. [19] Artikel 22 formuliert die Gegnerschaft der Hamas gegen Kräfte, die „den Feind unterstützen“. Das heißt, wie mit Palästinenser:innen umzugehen sei, die einen pragmatischen Ausgleich mit Israel anstreben oder schlicht kein Interesse an einer islamisch verfassten Gesellschaft haben. Hätte es sich nun wirklich so zugetragen, wie von Baumgarten behauptet, dass der arabische Aufstand von 1936-39 vor allem ein Aufstand der arabischen Bauernschaft gegen zionistische Großgrundbesitzer gewesen sei, dann wären viele weitere Begebenheiten überhaupt nicht zu erklären: Wieso hat sich in diesem Aufstand etwa die Anhängerschaft des Muftis von Jerusalem - Mohammed Amin al-Husseini - gegen den gegenüber der zionistischen Einwanderung pragmatischer eingestellten Clan der Nashashibis durchgesetzt? [20]
Küntzel weist nach, dass die Ausschaltung anderer palästinensischer Kräfte darauf beruht, dass al-Husseini maßgeblich von der Muslimbruderschaft aus Kairo Unterstützung erhielt, die wiederum von der Auslandsorganisation der NSDAP unterstützt wurde. Die Nahostpolitik der Nazis hatte großes Interesse daran, zusammen mit der Muslimbruderschaft einen in der arabischen Bevölkerung angelegten Antisemitismus zu radikalisieren. Im Jahr 1937, als die Peel-Kommission einen ersten Teilungsplan für das Mandatsgebiet Palästina mit dem Plan vorlegte, dieses in einen jüdischen, einen sehr viel größeren arabischen Staat und einen britischen Korridor zwischen Jerusalem und dem Mittelmeer aufzuteilen, rief al-Husseini in der Schrift Islam - Judentum zum Kampf gegen das Judentum und den Teilungsplan auf:
„Haltet zusammen, kämpft für den islamischen Gedanken, kämpft für eure Religion und euer Dasein! Gebt nicht eher Ruhe, bis euer Land von den Juden frei ist! Duldet nicht den Aufteilungsplan, denn Palästina ist seit Jahrhunderten ein arabisches Land und soll ewig arabisch bleiben.“ [21]
Diese strategische Ausrichtung findet sich in beiden Versionen der Charta der Hamas. Al-Husseini argumentiert in dem Aufruf mit Topoi des klassischen islamisch-religiösen Antijudaismus. Er behauptet, dass die allermeisten Jüdinnen:Juden schon zu Zeiten Mohammeds durch Verleumdung, Lüge und Arglist Zweifel unter die Anhänger:innen Mohammeds sähten, um dem Islam zu schaden. Dies führt er nicht auf den realen Konflikt beider Religionen auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert, sondern auf das vermeintliche Wesen der Jüdinnen:Juden zurück. Diese als Tatsachen ausgegebenen Verschwörungserzählungen begründet er damit, dass die Jüdinnen:Juden auch 1937 die Einheit aller Araberinnen:Araber in Palästina zerstören wollten. Genau darin liegt die Modernität dieses Antisemitismus, weil al-Husseini klassische religiöse Motive auf eine reale Krise, nämlich die zunehmende zionistische Besiedlung des Mandatsgebiets und den ersten Teilungsplan, anwendet und so deren mobilisierende Möglichkeiten abschöpft.
Diesen Aufstand als authentischen Vorläufer der Intifada von 1987 zu bezeichnen, in deren Verlauf sich die Hamas offiziell gründete, ist aus zwei Gründen richtig: Einerseits wurden während der ersten Intifada ebenfalls Gegenspieler der Hamas ausgeschaltet, andererseits sollte auch nicht eine bestimmte Politik Israels, sondern Jüdinnen:Juden als solche bekämpft werden.
Das ist also der ausgelassene Konnex des Aufstandes von 1936 und den darauf folgenden Jahren sowie der Intifada von 1987. Beide lassen sich tatsächlich als Widerstandsbewegungen beschreiben, allerdings nicht allein gegen eine irgendwie geartete Besatzung, sondern sie sind Ausdruck eines projektiven Antisemitismus, der innere Krisen der palästinensischen oder arabischen Gesellschaften an den Jüdinnen:Juden ausagiert. Spezifische bewaffnete Auseinandersetzungen, wie etwa der Israel-Gaza-Konflikt 2021, werden von Baumgarten stets so bewertet, dass sich die Hamas gegen die „israelische Besatzung“ zur Wehr setze und keine eigene Agenda verfolge. Nimmt man allerdings das bisher Gezeigte hinzu, ist diese Analyse mindestens unzulänglich, basiert sie doch auf entscheidenden Verdrängungen und Auslassungen.
In den Diskussionen nach den Vorträgen ähnelten sich sowohl Helga Baumgarten als auch Jules El-Khatib in einem Punkt sehr deutlich: Beide behaupteten, Organisationen des politischen Islam und vor allem die Hamas seien zum Großteil autoritäre und sicherlich keine linken Organisationen. Da sich aber die globale Linke in einem sehr schlechten Zustand befinde, müsse man im Kampf gegen Kolonialismus die Allianz mit diesen Organisationen suchen. Die strategische Ausrichtung der Linken solle sich also, geht es nach Baumgarten und El-Khatib, an Gruppierungen orientieren, die die projektive Verarbeitung gesellschaftlicher Krisen zum Inhalt haben. Anstatt diese Krisen nämlich wirklich anzugehen, projizieren sie diese auf Jüdinnen:Juden. Wie man sich beizeiten von der Hamas und Co. lösen soll, sobald die Linke in Zukunft in einem besseren Zustand ist, bleibt das Geheimnis der Referent:innen.
Was sicher ist, ist, dass hier auf einem der größten linken Kongresse in Deutschland dem Islamismus das Wort geredet wurde, das heißt, dass die zahlreichen Jüdinnen:Juden, aber auch die Muslim:innen weltweit, die sich keine Gesellschaft nach der Vorstellung der Islamist:innen wünschen, die diesem zum Opfer fallen, achselzuckend hingenommen wurden. Vor dem Hintergrund, dass die Partei Die Linke, aber auch die außerparlamentarische Linke sich an solchen Fragen mehr und mehr zerlegt, wäre sie gut beraten, mit solcherlei Menschenverachtung aufzuhören.
Anmerkungen:
[1] Beide: http://marxismuss.de/informationen/, letzter Aufruf 13.06.2022.
[2] Vgl. 99 Zu Eins. 2022: “Marx is’ Muss Kongress 2022 in Berlin”. https://www.youtube.com/watch?v=S2_OOKgyAU0, letzter Aufruf 13.06.2022.
[3] Vgl. Marz, Ulrike. 2014: Kritik des islamischen Antisemitisimus: Zur gesellschaftlichen Genese und Semantik des Antisemitismus in der Islamischen Republik Iran. Münster: LIT, S.48-53.
[4] Vgl. Feuerherdt, Alex. 2021: “Deutsche Medien zu Israel und den Aufmärschen: Zumutung mit Ausnahmen”. https://www.mena-watch.com/oeffentlich-rechtliche-medien-zu-israel-und-den-aufmaerschen-zumutung-mit-ausnahmen/, letzter Aufruf 13.06.2022.
[5] Baumgarten, Helga. 2006: Hamas: Der politische Islam in Palästina. Kreuzlingen - München: Heinrich Hugendubel Verlag, S. 8.
[6] Ebd.
[7] Baumgarten, Helga. 2021: Kein Frieden für Palästina: Der lange Krieg gegen Gaza: Besatzung und Widerstand. Wien: Promedia, S. 16.
[8] Vgl. ebd., S. 18.
[9] Vgl. Pabst, Yaak. 2022: “Palästina: ‘Schlimm, dass man dazu Mut braucht’. Interview mit Helga Baumgarten”. https://www.marx21.de/nahostkonflikt-schlimm-dass-man-dazu-mut-braucht-interview-mit-helga-baumgarten/, letzter Aufruf 13.06.2022.
[10] Vgl. Baumgarten, Helga. 2006: Hamas: Der politische Islam in Palästina, S. 9-36.
[11] Pabst, Yaak. 2022: “Palästina: ‘Schlimm, dass man dazu Mut braucht’. Interview mit Helga Baumgarten”. Vgl. Baumgarten Helga. 2006: Hamas: Der politische Islam in Palästina, S. 12 ff.
[12] Vgl. Weinstock, Nathan. 2019: Der zerrissene Faden: Wie die arabische Welt ihre Juden verlor: 1947-1967. Übers. v. Joel Naber. Freiburg -Wien: ça ira, S. 358 f.
[13] Vgl. Baumgarten, Helga. 2006: Hamas: Der politische Islam in Palästina, S. 61 ff.
[14] Küntzel, Matthias. 2002: Djihad und Judenhaß: Über den neuen antijüdischen Krieg. Freiburg: ça ira, S. 58, Hervorh. i. O.
[15] Vgl. ebd., S. 20.
[16] Vgl. Baumgarten, Helga. 2006: Hamas: Der politische Islam in Palästina, S. 58-66.
[17] Vgl. The Islamic Resistance Movement ‘Hamas’: “A Document of General Principles and Policies”. https://hamas.ps/ar/uploads/documents/06c77206ce934064ab5a901fa8bfef44.pdf, letzter Aufruf 13.06.2022.
[18] Vgl. Charta der islamischen Widerstandsbewegung Hamas. In: Baumgarten, Helga. 2006: Hamas: Der politische Islam in Palästina. Kreuzlingen - München: Heinrich Hugendubel Verlag.
[19] Vgl. Küntzel, Matthias. 2002: Djihad und Judenhaß, S. 103-123.
[20] Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf Küntzel, Matthias. 2002: Djihad und Judenhaß, S. 28-61 und Küntzel, Matthias. 2019: Nazis und der Nahe Osten: Wie der islamische Antisemitismus entstand. Leipzig: Hentrich & Hentrich, Kapitel I und II.
[21] [al-Husseini, Mohammed Amin]. 2019: “Islam - Judentum”. In: Küntzel, Matthias. 2019: Nazis und der Nahe Osten: Wie der islamische Antisemitismus entstand. Leipzig: Hentrich & Hentrich, S. 248.
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