„Rechtsextreme Organisationen wie die Grauen Wölfe übertragen vielen Jugendlichen eine türkisch-nationalistische Identität, die von der Abwertung von Anderen geprägt ist“
Im Gespräch mit Kemal Bozay über türkischen Rechtsextremismus in Deutschland
Als Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus verstehen wir es als unsere Aufgabe, mithilfe von Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit über Antisemitismus und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufzuklären und dagegen vorzugehen. Dazu zählen selbstverständlich auch Ungleichwertigkeitsideologien in migrantischen Milieus, die in der politischen Bildungsarbeit und der Rechtsextremismusforschung jedoch lange Zeit vernachlässigt wurden. Rechtsextreme Gruppen wie die türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe haben ihren Einflussbereich hierzulande ausgebaut und stellen eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben und die demokratische Gesellschaft dar. Aus diesem Grund führten wir ein Interview mit dem Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, der als Vertretungsprofessor an der Fachhochschule Dortmund lehrt. Mit ihm sprachen wir über die Türkisch-Islamische Synthese, die Ideologie der „Grauen Wölfe“ und mögliche Handlungsstrategien einer antirassistischen und interkulturellen Bildungsarbeit.
Was ist die Türkisch-Islamische Synthese? Stehen diese beiden Ideologeme nicht im Widerspruch zueinander?
Es hört sich zwar paradox an, doch seit mehreren Jahren versuchen nationalistisch-islamische Organisationen das Konzept der Türkisch-Islamischen Synthese öffentlich zu machen. Es macht derzeit die Kernideologie des türkischen Rechtspopulismus und -nationalismus aus. Interessant ist, dass in diesem Konstrukt die Religion von nationalistischen und rechtspopulistischen Einstellungen instrumentalisiert wird. Die zentrale Botschaft ist dabei die Vorstellung, dass die türkisch-nationalen und islamischen Bestandteile der türkischen Geschichte untrennbar miteinander verbunden seien. Mit dieser Form der Geschichtsschreibung wird versucht, eine neue türkische Identität zu verbreiten, in welcher der türkische Nationalismus mit islamischen Elementen verschmilzt. Vor allem geht es auch darum, fortschrittliche Positionen in der Gesellschaft ins Abseits zu drängen. Politischen Rückhalt findet diese Vorstellung nicht nur im offen rechtsextremen Lager, sondern auch in der Breite der konservativ-nationalistischen und islamistisch orientierten Bewegungen und Parteien. Daher nimmt die „Türkisch-Islamische Synthese“ sowohl bei den Grauen Wölfen als auch bei der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan eine Schlüsselrolle ein. Vor allem in Zeiten des nationalistischen Reflexes bildet diese Synthese eine paradoxe Einheit.
Wie würden Sie die Entwicklung der „Grauen Wölfe“ in Deutschland in den letzten Jahrzehnten beschreiben? Hat sich die Rolle des Islams verändert? Und inwieweit hat die Politik der Türkei Einfluss auf diese Strömung in Deutschland?
In Deutschland gibt es offiziell keine Organisation mit der Bezeichnung „Graue Wölfe“. Der Graue Wolf ist ursprünglich Teil der türkischen Mythologie und symbolisiert die Militanz der rechtsextremen Bewegung in der Türkei. In der Türkei gibt es derzeit aber Parteien wie die Nationalistische Bewegungspartei (MHP), Große Einheitspartei (BBP) und die Gute Partei (Iyi Parti), die sich an die rechtsextreme Tradition der Grauen Wölfe anlehnen. In Deutschland haben sich im Laufe der Migrationsbewegung in den 1960er und 1970er Jahren rechtsextrem türkische Dachverbände etabliert, die sich als Ablegerorganisationen dieser extrem rechten Bewegungen verstehen. Sie wirken auch politisch auf Jugendgruppen ein und versuchen in Deutschland das friedliche Zusammenleben zu verhindern. Gerade innenpolitische Themen der Türkei sorgen auch in Deutschland für Spaltungslinien, so dass gegenwärtig ein Import von Konflikten stattfindet. Wir haben das gesehen, als Bundestagsabgeordnete, die im Bundestag für die Armenienresolution gestimmt haben, öffentlich von türkisch-nationalistischen Organisationen diffamiert und bedroht wurden. Auch die antisemitische Stimmung und Mobilmachung im Zuge des Palästina-Konflikts bestätigt diesen politischen Konfliktimport. Sicherlich dient dabei der Islam als Instrument. Hinzu kommt, dass islamischen Organisationen nicht homogen sind und vielfältig als Ableger verschiedener politischer Parteien und islamischer Sekten fungieren. Die islamisch-nationalistisch orientierte AKP-Regierung unter Erdoğan leistet im Bündnis mit den Grauen Wölfen einen wesentlichen Beitrag, dass diese polarisierende Spaltungspolitik in Deutschland weiter forciert wird.
Spielt Antisemitismus eine Rolle für diese Bewegung? Welches Bild von Israel wird vertreten?
Dass der Antisemitismus innerhalb türkisch-nationalistischer und islamischer Organisationen verbreitet ist, haben wir aktuell an dem Palästina-Konflikt beobachten können. Bundesweit haben nationalistische-islamische Organisationen zu Protesten gegen Israel aufgerufen, bei denen antisemitische Parolen gerufen und Transparente getragen wurden. In Berlin wurden sogar Israel-Fahnen verbrannt. Die Ideologie der Grauen Wölfe stützt sich insbesondere auf ein Konglomerat von verschiedenen Inhalten. Hierzu gehören neben rassistischen Positionen auch Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen sowie Autoritarismus, Führerkult, Gewaltakzeptanz etc. Zu den grundlegenden Feindbildern der Grauen Wölfe gehören vor allem Kurden, Aleviten, Armenier und Juden. Natürlich hat das auch einen antisemitischen Hintergrund, der politisch propagiert wird. Die Grauen Wölfe beziehen sich dabei auf antisemitische Verschwörungstheorien, die einen internationalen Verbreitungsgrad besitzen. Schon die Pan-Turanisten, die Vorläufer der Grauen Wölfe, hatten in den 1930er und 1940er Jahren nach dem Vorbild des Hitler-Faschismus antisemitische Positionen in ihren Publikationen platziert und verbreitet. Interessant ist, dass die antisemitischen Argumente dabei sogar den Argumenten der deutschen Rechtsextremisten sehr ähneln. Auch die türkischen Medien vermitteln ein sehr negatives Israel-Bild, so dass das Thema „Antisemitismus“ sehr emotionalisiert wird und zu neuen Mobilmachungen führt.
Wie sind die „Grauen Wölfe“ in Deutschland organisiert und vernetzt? Gibt es Einflüsse auf Politik, Zivilgesellschaft oder andere politische Entscheidungsprozesse, z.B. über Integrationsbeiräte?
Zu den stärksten rechtsextrem türkischen Dachverbänden in Deutschland gehören die Türk Federasyon (ATF), Türkisch-Islamische Union Europa (ATIB) und Europäisch Türkischer Bund (ATB). Sei verstehen sich insgesamt als das Netzwerk der „Grauen Wölfe“ in Deutschland. Durch ihre vielfältigen Aktivitäten und Angebote üben sie einen großen Einfluss auf die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland aus. Durch verschiedene Mobilisierungen üben sie auch Einfluss auf türkeistämmige Jugendliche aus und versuchen sie für rechtsnationalistische Einstellungen zu gewinnen. Politische Verbindungen gibt es auch bundesweit zu Integrationsbeiräten. Auch in deutschen Parteien versuchen vereinzelt Anhänger der Grauen Wölfe aktiv zu werden und verschiedene Ämter zu bekleiden. Teilweise agieren sie in diesen politischen Gremien als Bündnispartner von islamischen Organisationen oder auch zivilgesellschaftliche Organisation. Allen voran geht es darum, die Interessen des so genannten „Europäischen Türkentums“ zu verteidigen und extrem nationalistische Positionen zu verbreiten.
Was bedeutet dies für die deutsch-türkische Integration in die Gesellschaft?
Zweifelsohne geht es dabei um die Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltungslinien, somit auch um Barrieren in der sozialen Integration von Türkeistämmigen in Deutschland. Gerade das Spannungsverhältnis in den deutsch-türkischen Beziehungen wirkt sich dabei auf die Ebene der gesellschaftlichen Teilhabe aus. Einerseits fördert das Erstarken eines türkischen Rechtsextremismus hierzulande eine „Parallelgesellschaft“, die das friedliche Zusammenleben verhindert und hemmt. Propagiert wird dabei ein Ethnopluralismus, der sich gegen die Multikulturalität und Interkulturalität stellt, sowie eine Selbstethnisierung und Selbstisolierung mit Rückbesinnung auf einen neuen „ethnischen Nationalismus“. Andererseits werden ja auch Spaltungslinien innerhalb der türkeistämmigen Gesellschaft in Deutschland geschaffen. Daraus resultieren Konflikte mit fortschrittlich eingestellten Türkeistämmigen sowie Spaltungslinien rund um die türkisch-kurdischen Konfliktpotentiale. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz hatte ja bereits im Oktober 2004 darauf hingewiesen, dass die Grauen Wölfe zur Bildung einer Parallelgesellschaft in Europa beitragen und somit eine Barriere in der Integration der türkischsprechenden Bevölkerung in Deutschland bilden.
Wie ist das Verhältnis zwischen türkischen und deutschen Rechtsextremisten und Ethnopluralisten?
Auf praktisch-politischer Ebene gibt es gegenwärtig nach meinen Beobachtungen kein aktives Bündnis zwischen den türkischen und deutschen Rechtsextremisten. Das Feindbild „Islam“ und „Türke“ bildet dabei einen wichtigen Stolperstein. Doch auf ideologischer Ebene sind durchaus Nähen zu erkennen. So war die türkische Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ längere Jahre Bestseller in der Türkei. Die führenden Köpfe der türkischen Rechtsextremisten (wie beispielsweise Alparslan Türkeş) sind bekannt als Hitler-Verehrer. In den 1970er und 1980er Jahren wurde die Nähe zwischen den türkischen und deutschen Rechtsextremisten anhand von Briefkorrespondenz bekannt. 2009 hat sich der damalige NPD-Vorsitzende in Hessen (Jörg Krebs) im Internet offen dazu bekannt, die Grauen Wölfe in Deutschland in die NPD aufzunehmen, selbstverständlich unter dem Label „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.
Inwieweit wird der türkische Rechtsextremismus in der Bildungsarbeit rezipiert oder stellt dies noch eine Leerstelle dar? Wo sehen Sie Herausforderungen für eine demokratische Bildungsarbeit?
Das Thema „Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft“ oder auch „Ungleichwertigkeitsideologien in der Migrationsgesellschaft“ wurde längere Jahre in der Bildungsarbeit ausgeblendet. Auch die Rechtsextremismusforschung hat sich diesem Thema zunächst sehr bedingt gestellt. Inzwischen gibt es sowohl in der Bildungsarbeit als auch in der Rechtsextremismusforschung eine Sensibilität für dieses Thema. Das reicht aber nicht aus. Wir benötigen antirassistische Konzept und diversitätsbewusste Handlungsstrategien, um allen gesellschaftlichen Formen von Rechtsextremismus und Ungleichwertigkeitsideologien bewusst entgegenzutreten. Vor allem Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Bildungspersonal, Multiplikatoren und Multiplikatorinnen der antirassistischen Arbeit benötigen neue Instrumente und Konzepte, um erfolgreich antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken.
Was macht die „Grauen Wölfe“ für türkischsprechende Jugendliche in Deutschland attraktiv? Was sind die Mobilisierungsstrategien?
Wir können beobachten, wie im Zuge der Mobilisierung des „Europäischen Türkentums“ auch die öffentlichen Aktivitäten der Grauen Wölfe in Deutschland weiter zunehmen. Hierzu zählen neben zahlreichen Großveranstaltungen, Demonstrationen und Auseinandersetzungen auch die Gründung von rechtsextrem und islamistisch orientierten Rocker- und Boxerclubs (wie beispielsweise Osmanen Germania, Turan e.V., Turkos MC), die gerade türkischsprechende Jugendliche ansprechen. Türkeistämmige Jugendliche, die hier geboren oder aufgewachsen sind, machen in dieser Gesellschaft Diskriminierungserfahrungen, gehören häufig zu den Verlierern von Bildungs- und Berufsprozessen. Daraus resultieren auch eine stärkere Identitätssuche und die Suche nach einem Gemeinschaftsgefühl. Gerade rechtsextreme Organisationen wie die Grauen Wölfe verstehen sich als Vereinigungen, die Gemeinschafts- und Gruppengefühl vermitteln und vielen Jugendlichen eine türkisch-nationalistische Identität übertragen, die von der Abwertung von Anderen geprägt ist. Hinzu kommt, dass diese Organisationen auch ein festes Werte- und Normgefüge bereitstellen, in der gut oder böse, recht oder unrecht, schwarz oder weiß durch rechtsextreme Positionen klar definiert sind. Gruppen wie die Grauen Wölfe verstehen sich ebenso als Vertreter des Türkentums, präsentieren damit ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der Aufnahmegesellschaft und sind deshalb für Jugendliche attraktiv. Trotz dessen wäre es falsch, diese Jugendlichen vorschnell zu etikettieren. Vielen türkischsprechenden Jugendlichen ist überhaupt nicht bewusst, welche ideologischen Konstellationen hinter diesen Organisationen stehen. Gerade die Erfahrung, als „Ausländer“ oder „Türke“ ausgegrenzt und diskriminiert zu werden, nehmen viele Jugendliche zum Anlass, nach einer scheinbar starken Gemeinschaft und Identität zu suchen. Um zu intervenieren oder präventiv vorzugehen, muss vor allem die antirassistische und interkulturelle Jugendbildungsarbeit Handlungsstrategien und Antworten finden und politische Signale senden.
Photo: Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 de
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