Heute, am 29.8.2022, jährt sich der sog. Sturm auf den Reichstag zum zweiten Mal. Eine juristische Aufarbeitung der Ereignisse hat bislang kaum stattgefunden. Wir haben die damaligen Ereignisse und die daraus folgenden strafrechtlichen Konsequenzen hier anlässlich des Jahrestags zusammengefasst.
Am 29.8.2020 versammelten sich etwa 40.000 Menschen an verschiedenen Orten in Berlin, um gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren, unter ihnen zahlreiche Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextreme. Die Stimmung war bereits den ganzen Tag über angespannt. Vor dem Bundestag auf dem Platz der Republik eskalierte die Situation schließlich. Hunderte Menschen durchbrachen eine Polizeiabsperrung und stürmten auf die Treppen des Reichstagsgebäudes, einige schwenkten Reichsflaggen. Polizeikräfte verhinderten ein Eindringen in den Bundestag. Erst nach mehreren Stunden konnten die Treppen durch die Polizei geräumt werden.
Die Polizei ermittelte daraufhin u.a. wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs gemäß § 125 StGB. Nach dieser Norm wird bestraft, wer aus einer Menschenmenge heraus Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen bzw. eine Bedrohung von Menschen mit Gewalttätigkeiten verübt. Dies war aus Sicht der Polizei mit dem gewaltsamen Durchbrechen der Absperrung am Bundestag gegeben. Bis heute gibt es jedoch nur zwei Verurteilungen wegen Landfriedensbruchs.
Die Polizei Berlin hat in den letzten zwei Jahren über 300 Ermittlungsverfahren [1] wegen der "Erstürmung" der Bundestagstreppen eingeleitet, in 88 Fällen konnten Tatverdächtige ermittelt werden. Mehrheitlich geht es um den Vorwurf des Landfriedensbruchs (77). Weitere Tatvorwürfe sind tätlicher Angriff bzw. Widerstand gegen Beamte, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Beleidigung und Sachbeschädigung. Die Ermittlungen dauern noch an.
82 Verfahren wurden bislang von der Polizei an die Staatsanwaltschaft Berlin übergeben. Diese hat hiervon jedoch 55 Verfahren eingestellt, das entspricht 67% der Verfahren. Die Staatsanwaltschaft begründete dies in den meisten Fällen mit dem Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts, also der fehlenden Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung. Im Rahmen einer SPIEGEL TV-Dokumentation zum “Sturm auf den Reichstag" vom 22.8.2022 sagte ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Berlin, das Hauptproblem bei der Strafverfolgung bestehe darin, dass die Identität vieler Demonstrant:innen nicht feststellbar sei. Auch sei das “Erstürmen” der Treppen am Bundestagsgebäude an sich nicht strafbar, es müssten weitere Handlungen hinzukommen, um Anklage gegen die Beteiligten erheben zu können. Anscheinend bewertet die Staatsanwaltschaft das Überwinden der Polizeiabsperrung als nicht ausreichend, um eine Anklage wegen Landfriedensbruchs zu rechtfertigen. 17 Gerichtsverfahren laufen derzeit noch.
Diese Zahlen stehen in krassem Widerspruch zu den Geschehnissen vor zwei Jahren. Damals wurde der Bundestag als Symbol der Demokratie gezielt von Demokratiefeinden attackiert. In der oben genannten SPIEGEL TV-Dokumentation bedauerte ein an den Ereignissen beteiligter Aktivist, dass die beabsichtigte “Revolution” gescheitert sei, man werde jedoch im Herbst erneut auf die Straße gehen und protestieren. Spätestens seit dem Angriff auf das US-Capitol im Januar 2021 muss auch der deutschen Justiz bewusst sein, welche Gefahr für die Demokratie von Verschwörungsideolog:innen, rechtsextremen Akteur:innen und ihren Anhänger:innen ausgeht. Eine wehrhafte Demokratie muss Angriffe auf ihre Stätten und Institutionen konsequent strafrechtlich verfolgen und den Ablauf der Ereignisse sorgfältig aufklären, um eine Wiederholung zu verhindern. Es bleibt zu hoffen, dass Justiz und Politik in Zukunft entsprechend der Erfahrungen, die sie bei der Aufarbeitung des sog. Sturms auf den Reichstag gesammelt haben, handeln werden.
Verweise
[1] Die Zahlen sind einem Beitrag bei Legal Tribune Online (LTO) entnommen, verfügbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reichsbuerger-stuermen-reichstag-viel-ermittlungsaufwand-wenige-verurteilungen-landfriedensbruch/. Sie basieren auf einer Anfrage von LTO an die Berliner Polizei von Juni 2022.
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