Chasia Bornstein-Bielicka wurde am 16. Januar 1921 in Grodno, einer Stadt mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, im damaligen Polen geboren. Sie wuchs gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Avramele und ihren beiden Schwestern Rocheleh und Zipporka in einer traditionell jüdisch lebenden Familie in einem Stetl auf. Ihr Vater Yehuda war Buchhalter und Besitzer einer Getränkefabrik, ihre Mutter Deborah arbeitete als Fabrikarbeiterin und betrieb einen kleinen Lebensmittelladen. Chasia verband ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Familie und schilderte ihr Aufwachsen in der jüdischen Gemeinde in Grodno als sehr harmonisch. Ihre Kindheit wurde jedoch früh von den massiven antisemitischen Ausschreitungen der christlichen Bevölkerung gegenüber der jüdischen Bevölkerung geprägt. Von ihrer Verwandtschaft, die aus über 90 Familienmitgliedern bestand, überlebte sie als einzige die Shoah.
Im Jahr 1933, als Chasia zwölf Jahre alt war, schloss sie sich einer Gruppe der zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatza'ir an, deren Hauptziel die Alija nach Israel und der Aufbau von Kibbuzim war. Später wurde sie eine der Anführer:innen. Auch aus ihrer Widerstandsgruppe überlebte niemand außer Chasia die Shoah.
Jahrzehnte später äußerte sich Chasia rückblickend über ihre Zeit in der Hashomer Hatza'ir:
"Wir wussten, wie man teilt, zusammenarbeitet, aufeinander Rücksicht nimmt, Hindernisse überwindet und sich selbst übertrifft. Damals war uns nicht klar, wie dringend wir [diese Fähigkeiten] in den kommenden Jahren brauchen würden.“
Wie auch andere zionistische Jugendbewegungen entstand die 1913/14 gegründete Hashomer Hatza'ir in einem Kontext, in dem sich Jüdinnen:Juden bedroht fühlten, daher lernten die Mitglieder der Gruppen gemeinsam, mit existenziellen Problemen umzugehen und auf allen Ebenen zusammenzuarbeiten. Schon während ihrer Zeit in der Hashomer Hatza'ir lernte Chasia wichtige Prinzipien der Untergrundarbeit kennen.
Als Grodno im Juni 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, zerstörten die Truppen etwa die Hälfte der Gebäude der Stadt und errichteten zwei Ghettos für die Jüdinnen:Juden aus Grodno und den umliegenden Dörfern. Ab November 1941 wurden etwa 25.000 Jüdinnen:Juden in das Ghetto Grodno deportiert und dort auf engstem Raum zusammengepfercht, so auch die damals 20-jährige Chasia und ihre Familie. Das Ghetto I, das Hauptghetto, befand sich im alten, zentralen Teil der Stadt und umfasste eine Fläche von weniger als einem halben Quadratkilometer. Chasia lebte dort mit etwa 15.000 weiteren Jüdinnen:Juden, die als „produktive Arbeiter“ eingestuft wurden. Im zweiten Ghetto, das in einem anderen Teil der Stadt, dem Stadtviertel Slobodka, errichtet worden war, wurden etwa 10.000 Jüdinnen:Juden eingesperrt, die als „unproduktiv“ eingestuft wurden.
Im Ghetto kümmerte Chasia sich viel um jüngere Jugendliche, denen sie Geschichten vorlas und mit ihnen über die Auswanderung nach Israel sprach. Sie versuchte, den Jugendlichen Mut und Hoffnung zu geben und ihnen eine Beschäftigung im Alltag des Ghettos zu sein, und zu verhindern, dass sie sich den ganzen Tag auf der Straße herumtrieben. Als Mitglied der im Ghetto entstandenen Untergrundorganisation half Chasia zahlreichen Jüdinnen:Juden, die aus Westpolen nach Grodno flohen und organisierte Lebensmittel, Kleidung und Schuhe für Familien, die sich in großer Not befanden. Außerdem beschaffte die Untergrundbewegung Schusswaffen aus den umliegenden Dörfern und fälschte Zertifikate und Dokumente.
Fluchtversuche aus dem Ghetto, sowie das Stehlen von Nahrungsmitteln wurden mit dem Tod bestraft. Chasia erinnert sich genau an einen Tag im November 1942, an dem die gesamte Ghettobevölkerung dazu gezwungen wurde, sich auf der Hauptstraße des Ghettos zu versammeln und bei der öffentlichen Hinrichtung von drei Menschen zuzusehen. Der Kommandeur des Ghetto I, Kurt Wiese, prahlte damit, dass er die schönste Frau im Grodno Ghetto, Lena Prenski (1913–1942), sowie zwei weitere Männer selbst erhängen würde. Chasia schildert, wie Lena Prenski ihm in dem Moment, als er ihr die Schlinge um den Hals legte, in sein Gesicht spuckte. Dann stoß Wiese den Stuhl weg und Prenski erstickte.
„Alle waren weg, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte mir die drei ansehen, die getötet worden waren. Zwei Männer und sie [Lena Prenski], die dort hingen, um mich mit Hass zu erfüllen. Ich stand stundenlang da. Meine Freunde versuchten, mich von dort wegzuziehen, aber ich sagte: "Noch nicht! Ich muss das sehen, damit mein Hass so groß wird, dass ich in der Lage bin, einen Deutschen mit bloßen Händen zu ermorden.“ Das ist auch der Grund, warum ich in den Untergrund gegangen bin – um zu kämpfen.“
Im November 1942 begann die Liquidierung des zweiten Ghettos. Ein Teil der Ghettobevölkerung wurde in das Ghetto I verlegt. Viele andere Ghettobewohner:innen, darunter auch Verwandte von Chasia, wurden in das Durchgangslager in Kielbasin (Kelbasino) und von dort aus in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert.
„Sie waren nicht zehntausend Juden. Sie waren Tante Rosa und ihr Mann Yehoshua und ihre Kleinkinder Yehuditkeh und Avramek. Sie waren Onkel Chaim und seine Frau Rachel, ihre beiden Kleinkinder und seine beiden älteren Kinder von seiner ersten Ehefrau, Yenta und Yankele. Sie waren Tante Ita und ihr Mann, Onkel Iche, Onkel Yaakov mit seinen Kindern und Enkelkindern. Es waren all die Jugendlichen, die ich fast ein Jahr lang zweimal pro Woche beraten hatte. Sie waren die Massen von Frauen, Männern, Jugendlichen und älteren Menschen, die meine Gemeinschaft bildeten. Sie waren meine Freunde, Lehrer, Verwandten und Bekannten […].“
Auch Bewohner:innen aus dem Ghetto I wurden bereits ab November in das Durchgangslager Kielbasin und in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert, darunter auch ihr Vater, der in Treblinka ermordet wurde. Einige der Deportierten sprangen aus den Zügen und versteckten sich in den umliegenden Wäldern, während andere das etwa 80 Kilometer entfernte Ghetto Białystok erreichten. Am 12. März wurde das Ghetto Grodno vollständig aufgelöst und die letzten dort verbliebenen Jüdinnen:Juden nach Białystok deportiert.
Chasia wurde bereits Mitte Januar im Rahmen ihrer Untergrundtätigkeiten nach Białystok geschickt. Gemeinsam mit einer Freundin sollte sie eine Sammlung von Materialien, die zum Fälschen von Dokumenten benötigt wurden, aus Grodno retten, bevor auch das Ghetto I liquidiert werden würde. Damit sollte sie anderen Jüdinnen:Juden zur Flucht aus dem Ghetto Białystok verhelfen.
Mit Hilfe einer gefälschten Geburtsurkunde gab sie sich Chasia in Bialystock unter dem Decknamen Halina Stasiuk als nicht-jüdische Polin aus. So konnte sie sich außerhalb des Ghettos aufhalten und als „Verbindungsmädchen“ zwischen dem Ghetto und der „arischen Seite“ für den jüdischen Widerstand in Białystok arbeiten. Auf der „arischen“ Seite arbeitete Chasia als Dienstmädchen für einen SS-Mann namens Luchterhand und dessen Familie. Sie besorgte der jüdischen Untergrundbewegung Medikamente, Munition und Materialien für die Herstellung von Waffen. Regelmäßig stahl Chasia einige Kugeln aus dem Schrank, in dem Luchterhand seine Waffen aufbewahrte und schmuggelte diese ins Ghetto. Einmal war Chasia sicher, dass sie erwischt worden war, da Luchterhand sie aufgebracht zum Schrank rief. Doch er war nur wütend auf sie, da sie seine Waffen beim Putzen des Schranks nicht richtig angeordnet hatte.
Anfangs arbeiteten 17 Verbindungsmädchen im Widerstand. Zwölf von ihnen wurden jedoch während ihrer Tätigkeiten erwischt und ermordet. Wenn die Verbindungsmädchen in den Ghettos ein- und ausgingen, mussten sie stets eine Menge Bargeld bei sich tragen, um damit gegebenenfalls sogenannte Schmaltzovniks („Erpresser“) bestechen zu können, die untergetauchte Jüdinnen:Juden verrieten, wenn sie ihnen kein Geld zahlen konnten.
Chasia litt enorm unter der Belastung durch ihre doppelte Identität und die ständige Gefahr, der sie als Verbindungsmädchen ausgesetzt war:
„Wir konnten nicht wirklich weinen, nicht wirklich schmerzen und uns nicht wirklich mit unseren Gefühlen verbinden. Wir waren Schauspieler in einem Stück, das keine Pause hatte, nicht einmal für einen Moment, eine Bühnenaufführung ohne Bühnen. Nonstop-Schauspielerinnen.“
Chasia beschrieb später, dass sie ihre Rolle spielte, indem sie „extreme Zuversicht zu heuchelte“. Einmal wurde sie von einem Nazi bei dem Versuch beobachtet, das Ghetto zu betreten. Schnell zog sie ihre Hose herunter und urinierte, wodurch sie ihren Beobachter abschreckte. In den Büros der Gestapo, wo sie ihren gefälschten Ausweis abholte, beschwerte sie sich über die langen Wartezeiten.
Im August 1943 wurde das Ghettos Białystok liquidiert. Zahlreiche bewaffnete Soldaten drangen in der Nacht vom 15. Auf den 16. August in das Ghetto ein umstellten es von außen. Chasia begab sich in das Ghetto, da sie gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Untergrundorganisation in einem bewaffneten Aufstand gegen die Liquidierung kämpfen wollte, doch Mordechai Tenenbaum, der Kommandant des Aufstands, hielt sie davon ab. Er befahl ihr, auf die „arische“ Seite zurückzukehren, um die Aufständischen gegebenenfalls mit zusätzlichen Waffen versorgen zu können. Chasia war die letzte Person, die das Ghetto vor dem Aufstand verließ. Sie mischte sich einer Menge aus polnischen Beobachter:innen vor dem Ghetto unter, die zusahen, wie der versuchte Aufstand der Ghettobevölkerung brutal niedergeschlagen wurde und die Jüdinnen:Juden zusammengepfercht wurden, um auf ihre Deportation in die Vernichtungslager zu warten. Unter den Menschen befanden sich auch Chasias Mutter und ihre beiden Schwestern.
Chasias Freundin Chaika Grossmann (1919–1996) war eine der Hauptanführer:innen des Ghettoaufstandes. Ihr gelang es, noch vor der Deportation aus dem Ghetto zu fliehen. Chasia nahm ihre Freundin bei sich in ihrer Wohnung auf und stellte sie ihrem Vermieter als ihre Cousine vor. Beide waren nach der Liquidierung des Ghettos nun im Kurierring für die in den Wäldern versteckte Partisanenbrigade tätig. Als Kurrierinnen lieferten sie Waffen an die Partisan:innen, wobei sie jedes Stahlteil eines Gewehres einzeln in den Wald transportieren mussten, um nicht aufzufallen. Neben Waffen gaben sie auch wertvolle Informationen an die Partisan:innen weiter und ermöglichte ihnen so unter anderem, in ein Gestapo-Arsenal einzubrechen.
Chasia und Chaika lernten den deutschen Malermeister Otto Busse (1901–1980) kennen, der mit der Renovierung von Krankenhäusern und Wohnungen, in denen die deportierten Jüdinnen:Juden von Białystok gelebt hatten, beauftragt worden war und als Baumeister für die deutsche Armee arbeitete. In seinem Betrieb beschäftigte er einheimische Pol:innen, und so bot er auch den beiden Freundinnen eine Sekretariatsarbeit in seinem Betrieb an, die Chasia annahm. Chaika arbeitete für den deutschen Textilfabrikanten Arthur Schade, der Kommunist war. Chasia wusste, dass Busse jüdische Zwangsarbeiter:innen beschäftigt und mitversorgt hatte, um diese eine Zeit lang vor den Deportationen in die Vernichtungslager bewahren zu können, deshalb vertraute sie ihm an, dass sie selbst Jüdin sei. Gemeinsam mit den anderen drei noch lebenden Verbindungsmädchen gründeten Chasia und Chaika eine Gruppe mit Busse, Schade und einigen anderen Deutschen, die den jüdischen Partisan:innen helfen wollten. Otto Busse wurde später in Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt.
Die Mädchen gaben Waffen von den Deutschen an die Rote Armee weiter und überlieferten ihnen wichtige Informationen für die Besetzung von Białystok. Es ist Chasia zu verdanken, dass Białystok im August 1944 ohne Verluste von der Roten Armee eingenommen wurde, da sie eigens eine Karte der Stadt angefertigt hatte.
Nach Kriegsende eröffnete Chasia ein jüdisches Kinderheim in Łódź. Ohne jegliche pädagogische Ausbildung betreute sie 37 traumatisierte Waisenkinder, die die Shoah in Verstecken in Schränken, in Klöstern, in polnischen Kinderheimen, in Wäldern oder auf Partisanenstützpunkten und auf sowjetischem Gebiet überlebt hatten. Da sie sich um die Sicherheit der Kinder in Polen sorgte, fasste sie den Entschluss, mit den Kindern nach Palästina zu emigrieren. Der Weg nach Palästina führte die Gruppe zunächst zwei Jahre durch Deutschland, Frankreich und Zypern, bis ihr Schiff schließlich in den Hafen von Haifa einlaufen durfte. Chasia blieb ihr gesamtes Leben lang eng mit den Waisenkindern in Kontakt.
Chasia ließ sich im Kibbuz Lehavot Habashan im Norden Israels nieder und arbeitete als Erzieherin und Kunstlehrerin am Tel Hai College. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Heini Bornstein (1920 – 2016), der ebenfalls als Mitglied von Hashomer Hatza'ir im Widerstand gewesen war, bekam sie drei Töchter: Yehudit, Racheli und Dorit.
Am 15. Juli 2012 verstarb Chasia Bornstein-Bielicka im Alter von 91 Jahren in Israel.
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