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Tanzen zwischen Friedensrufen und Drohungen: Die Bedeutung von Musik in der Corona-Protestbewegung






„Musik ist der magische Schlüssel“ steht in roten Buchstaben auf einem hellblauen Plakat, das an einer Stufe des Amphitheaters im Mauerpark befestigt ist. Wenige Meter entfernt rappt ein Teil der Gruppe Rapbellions auf einer Bühne: „Wir sind N. A. Z. I. / Nicht an Zwangsimpfungen interessiert“. Das Publikum, das mutmaßlich sonst weniger Rap-Konzerte besucht, lässt sich von der Performance mitreißen. Personen mittleren bis höheren Alters wippen zum Beat, schwingen ihre Arme über dem Kopf und tanzen ausgelassen. Mit dem „Friedens-Fest 2.0“ endete am 06. August 2022, die vom Bündnis „Wir sind Viele“ veranstaltete „Woche der Demokratie“ in Berlin. Neben Reden prägten insbesondere szeneeigene Musiker:innen das Geschehen.


Seit Anbeginn der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen erweist sich Musik als ein wichtiger Bestandteil der Bewegung: Musiker:innen verarbeiten die Pandemie in Texten, Kundgebungen werden durch musikalische Einlagen aufgelockert, sonst stille „Spaziergänge“ transportieren ihre Botschaften über Musik nach außen. Während Abstandsregeln und soziale Isolation das Leben der meisten Menschen in Deutschland bestimmten, sorgten etwa Bilder von singenden und tanzenden Menschen auf Protesten gegen den Infektionsschutz bei vielen für Ärger und Unverständnis. Als die Sterbezahlen während der vierten Corona-Welle im Winter 2021 um 22 % über dem Vergleichswert der Vorjahre lagen, feierte das Berliner Bündnis „Querdenken30“ jeden Samstag eine Corona-Party. Eng umschlungen zog man in einer Polonaise zu Titeln wie „Maskenlos“, „Ein bisschen Sars muss sein“ oder „Corona ist vorbei“ über den Alexanderplatz. Hier war insbesondere Michael Bründel federführend, Kopf der von ihm gegründeten „Freedom Parade“. Als „Captain Future“ mimt er einen Superhelden und veranstaltet karnevaleske Exzesse, die die Proteste im Rahmen der Pandemie lange prägten. Im Sommer 2020 organisierte die „Freedom Parade“ im zweiwöchigen Takt Veranstaltungen (wir berichteten beispielsweise über die Veranstaltungen am 23. Mai und 28. November), bei denen unter Anleitung von Bründel Menschen auf Straßen, Plätzen und Brücken zu gefälligem Tech-House den Infektionsschutz tanzend ignorierten. Ein weiterer Zusammenschluss, der die Bewegung prägte, war das Ende 2020 entstandene Bündnis „Wir sind Viele“, das jeden ersten Samstag im Monat paradenartige Demonstrationen veranstaltete, die durch verschiedene Berliner Stadtteile zogen. In den letzten Monaten ist in Berlin ein neues Phänomen zu beobachten: Es werden immer häufiger halbtägige Musikfeste veranstaltet, die auf den ersten Blick kaum noch als politische Veranstaltung zu erkennen sind.



Musik schafft kollektive Identität


Seit jeher nimmt Musik auf gesellschaftspolitische Ereignisse Bezug und erfüllt auch für politische Bewegungen nach innen und außen wichtige Funktionen. Musik kann Werte und Überzeugungen vermitteln und so auf einer individuellen und kollektiven Ebene zur Ideologisierung innerhalb einer Bewegung beitragen. Christoph Schulze, der am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam zu Musik im Rechtsextremismus forscht und auch die Corona-Protestbewegung intensiv verfolgt, betonte in einem Gespräch mit dem JFDA, dass Musik eine Möglichkeit biete, Inhalte für eine Bewegung zu „ästhetisieren“ und damit eine „kollektive Identität herstelle“. Laut Schulze seien Inhalte über Musik „viel einprägsamer, viel zugänglicher“ zu vermitteln, als über „ein trockenes Manifest.“ Für die Corona-Protestierenden scheint das gemeinsame Erleben eines musikalischen Ereignisses oft wichtiger zu sein als die Inhalte der Texte, die häufig von Uneindeutigkeit, Andeutungen und leeren Worthülsen geprägt sind, die erst oder insbesondere in ihrer Kombination ihre Wirkmacht entfalten.


Musik biete „Gelegenheiten für Ereignisse, für Events, für Abenteuer, für prägende Erlebnisse“, so der Rechtsextremismusforscher Schulze. Kollektives Tanzen und Singen verbindet Menschen und schafft ein Gefühl von Gemeinschaft. Während Teilnehmende bei einer Rede bloße Empfänger:innen sind, die dem Gesagten höchstens mit Klatschen und Jubel beipflichten können, werden sie durch gemeinsames Singen und Tanzen selbst Teil des Ereignisses. Zudem bietet Musik über das spezifische Ereignis hinaus die Möglichkeit, in die Alltagskultur von Menschen einzudringen. Musik spiele „im Alltag von fast allen Menschen auf irgendeine Art und Weise eine Rolle“; eine „politische Position“ hat über Musik die Möglichkeit, Zugang zur Alltagspraxis von Menschen zu gewinnen und hat dadurch „natürlich ganz viel erreicht“, so Schulze. Beim Musikhören erinnern wir uns an Ereignisse, die wir mit ihr verbinden. Sinnstiftende Momente können so durch Musik im Alltag reaktiviert werden.


Auch nach außen erfüllt Musik für politische Bewegungen die Funktion, Inhalte und Werte zu kommunizieren, sie dient als Werbeträger und Erkennungszeichen, so Schulze. Darüber hinaus kann über Musik eine ökonomische Infrastruktur aufgebaut werden.



Öffentliches Singen und Tanzen als Form des politischen Protests


„Welche bessere Art für unsere Freiheit und die Liebe zu demonstrieren könnte es geben, als unter freiem Himmel zu tanzen?“

Michael Bründel (Captain Future) – Quelle: belltower


Musik spielt zwar für viele politische Bewegungen eine wichtige Rolle, bei den Corona-Protesten scheint die Bedeutung von Musik jedoch eine besondere Qualität anzunehmen. Im Gegensatz zu den Protesten von 2015 beispielsweise, die sich gegen Geflüchtete richteten und laut Schulze eher von einer „bodenständigen Ästhetik“ ausgezeichnet waren, seien die Corona-Proteste zusätzlich von einer „hedonistischen Ästhetik“ mitgeprägt. Mithilfe von Musik versuche die Bewegung, für sich positive Gefühle wie „Lebensfreude“ zu reklamieren. Der Einsatz von Musik und Tanz bei Corona-Protesten solle, auch jenseits von den konkret gesungenen Texten, vermitteln: „Die da oben, die schüren eine Panik, wollen uns unser frohes, menschenwürdiges Leben wegnehmen und wir ignorieren das einfach, wir ertanzen uns die Lebensfreude zurück, die uns streitig gemacht werden soll.“


Im Kontext der Corona-Proteste ermöglicht Musik es den Beteiligten, sich von der Außenwelt der vermeintlichen „Schlafschafen“ abzugrenzen und beinhaltet so ein identitätsstiftendes Distinktionsmoment. Singen und Tanzen bot vor dem Hintergrund der Einschränkungen zum Infektionsschutz außerdem die Möglichkeit des Regelbruchs, einem „klassisches Mittel von politischen Bewegungen“ so Schulze. Nachdem in ganz Deutschland nicht nur Clubs und Bars wieder ihren Betrieb aufgenommen haben und Großveranstaltungen uneingeschränkt stattfinden können, erscheint das öffentliche Tanzen und Singen als Akt des Widerstands jedoch zunehmend absurd.


Es ist also nicht überraschend, dass in einer Zeit, in der nur noch wenige Infektionsschutzmaßnahmen bestehen, Corona-Proteste an Zulauf verlieren. Auf der letzten konventionellen Kundgebung von „friedlich zusammen“ im Görlitzer Park am 09. April 2022, verkündete die Schauspielerin und Mitorganisatorin von „friedlich zusammen“ Tina-Maria Aigner am Ende der Veranstaltung angesichts der fallenden Teilnehmer:innenzahlen, dass sie „auf jeden Fall weitermachen“ wollen. Man wüsste nur noch nicht, in welcher Form. Es folgte eine wenig erfolgreiche Fahrraddemo. Der nächste Versuch war eine „Kundgebung mit Musik und Redebeiträgen“ am 02. Juli 2022 im Friedrichshain, die auch keine großen Massen mobilisieren konnte, aber an ein kleines Tagesfestival erinnerte.



Protest als Event


Seit diesem Frühjahr nehmen die Corona-Proteste in Berlin zunehmend die Form von Events an, die einen Selbstzweck erfüllen. Den Beginn dieser Entwicklung machte das von der Reihe „Wir sind Viele“ organisierte „Friedens-Fest“ am 04. Juni 2022 im Mauerpark. Darauf folgte die von „friedlich zusammen“ veranstaltete Kundgebung am 02. Juli 2022 im Friedrichshain und schließlich das „Friedens-Fest 2.0“ im Rahmen der „Woche der Demokratie“ am 06. August 2022 im Mauerpark. Im Unterschied zu den vorangegangenen Veranstaltungen, zeichnen sich diese Veranstaltungen durch einen Erlebnischarakter aus: es gibt Stände mit Merchandise, Kinder können sich schminken lassen, es wird Bier getrunken und gepicknickt. Die Veranstaltungen sind ein Anlass, um zusammenzukommen, Kontakte zu knüpfen und eine gute Zeit miteinander zu verbringen. Bei der Veranstaltung von „friedlich zusammen“ schienen die Reden und Musikeinlagen in Teilen sogar nebensächlich zu sein. Nur wenige Auftritte, wie der von den in Österreich lebenden Musiker:innen Morgaine und Äon oder die Rede der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, zogen das Publikum in größerem Maße vor die Bühne. Dies war anders beim „Friedens-Fest 2.0“, hier zentrierte sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Musikprogramm. Durch die Eventisierung erscheinen die Veranstaltungen weniger als Mittel des politischen Protests, als ein Versuch, mithilfe der gemeinschaftsstärkenden Kraft von Musik, gegen den Bedeutungsverlust der Bewegung anzukämpfen und sie so über den Sommer zu retten.



Für die Liebe, für die Menschheit / Fuck NWO – Ein widersprüchliches Nebeneinander


Zwischen barfuß tanzenden Menschen, Peace-Zeichen und Herzchenluftballons, kann schnell der Eindruck entstehen, es handele sich bei den Veranstaltungen um unschuldige Sommerfeste. Dieser Eindruck sorgt mitunter für Kritik aus den eigenen Reihen. Zum Abschluss der „Woche der Demokratie“ forderte der rechte Medienaktivist Matthäus Westfal (Aktivist Mann) in einem Gespräch mit Ralph Bühler, der 2021 für die AfD als Bürgermeister in Walldorf kandidierte, dass „der ganze Widerstand [...] ernsthafter“ und „seriöser werden“ müsse, „das fängt bei der Kleidung“ und dem „Tanz“ an. Bühler erwiderte: „Mal zwei Lieder weniger ist auch in Ordnung“.


Auch wenn die Musik und Tanzeinlagen im Kontext der Protestveranstaltungen oft grotesk wirken, darf dies nicht über den eigentlichen Charakter der Bewegung hinwegtäuschen: In den Texten zirkulieren zahlreiche verschwörungsideologische Narrative, wenn es z.B. um eine „Politdarsteller-Show“, „Fake-News“ oder auch um Deutschland als „Diktatur“ geht, gegen welche sich viele der Musiker:innen im Widerstand sehen. Unter dem inflationären Gebrauch von Begriffen wie „Frieden“ und „Freiheit“ mischen sich mit Schlagworten wie „Killuminati“ oder „NWO“ zahlreiche antisemitische Chiffren, die nicht selten in kryptische NS-Vergleiche münden.


Insbesondere die Texte der Rapbellions, der selbsternannten „kritische[n] Stimme des Hip-Hop“, einer aus 15 Personen bestehende Rap-Crew, die in unterschiedlichen Konstellationen auftritt, fallen durch eine Vielzahl an verschwörungsideologischen Erzählungen auf. Ihr Song „Ich mach da nicht mit“, zudem Xavier Naidoo den Refrain beigesteuert hat, ist hierfür paradigmatisch:


Satanische Sklaven sind apathisch und sick / Ich sag’: „Fuck NWO“ und bewahr’ mein Gesicht / Sie folgen dem Plan, da ist gar nichts Zufall. [...]


Killuminati, nehm’ den Stift und baue Brücken / Statt links und rechts, die Mitte die Stimme der Unterdrückten / Sie wollen richten und vernichten, vergiften durch das Impfen / Weckruf Wissen Wandel, handel um die Kinder zu beschützen / Diese Fake-Pandemie lässt die Menschheit verdumm’ / NWO, ganze Welt ist im Endstadium.


Ähnliche Andeutungen, die darauf zielen, einer kleinen eingeschworenen Eliten bösartige Machenschaften zu unterstellen, finden sich auch bei Björn Banane:


Steckt vielleicht hinter all dem ein Plan. (Schluss mit Lockdown)


Weil sich die Eliten vereinten, wurde die Wahrheit zensiert. (Rote Linie)


Ein weiteres beliebtes Motiv sind angedeutete NS-Vergleiche:


Ich mach’ da nicht mit (vergiss es) Ich leb’ nicht wie'n Sklave / Hab aufgepasst in Geschichte, seh’ wie sie kläglich versagen / Leben nach Regeln und sagen nix, tragen brav ihre Masken. (Rapbellions – Ich mach da nicht mit)


Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten / Niemand hat die Absicht, sie in Auschwitz zu vernichten / Und niemand hat die Absicht, mit einem Impfstoff zu vergiften, denn alle ihre Maßnahmen sollen uns eigentlich nur schützen. (Rapbellions – Artikel 20, Absatz 4)


Wollen wir wieder scheitern oder dieses Mal verweigern? (Lui Koy und Zuila – Artikel 146)


Ich werde nicht gern total überwacht / So viel Macht ist ungesund / Das hat mir Hitler beigebracht / Ja, wir sind die Weltmacht. Wir sind das Volk. Ihr habt nur die Geldmacht (Lui Koy und Zuila – Artikel 146)


Die Texte deuten vieles nur an und lassen Raum für Interpretation, wodurch sie weniger angreifbar sind. Das zeigt sich auch darin, dass sich niemand an der Diskrepanz zu stören scheint, wenn auf demselben Event einerseits über Liebe und Frieden gesungen wird und andererseits Gewaltandrohungen verbalisiert werden. Beispielsweise sangen Ben Arslan und Bettina aus Berlin auf dem „Friedens-Fest“ am 04. Juni 2022 im Mauerpark von Menschlichkeit und Frieden:


Ich entscheid’ mich für die Liebe, für die Menschlichkeit, denn nur wer nicht geliebt wird, hört auf, ein Mensch zu sein / Ich entscheid’ mich für den Frieden und höre immer auf mein Herz, wir sollten anfangen uns zu lieben, ich weiß genau wir sind es wert


Nur kurze Zeit später rappte SchwrzVyce seinen Song „Rechtsextrem“, der u.a. folgende Zeile enthält:


„Sie sagen, wir sind rechtsextrem. Woll’n sie mich wirklich flexxen seh’n?“


Dieses widersprüchliche Nebeneinander wurde durch eine Ansprache von SchwrzVyce während seines Auftritts in Richtung Gegenprotest auf die Spitze getrieben. Er widmete zunächst „der Antifa“ seinen Song „Rechtsextrem“ mit den Worten: „Die Liebe ist die einzige Antwort, immer, und deswegen möchte ich auch [...] der Antifa heute meine [...] Liebe aussprechen. Ja. Ich, ich liebe auch euch. Ihr seid auch Menschen, wie du und ich. Und [...] wenn wir eine neue Welt schaffen wollen, dann schaffen wir das nur gemeinsam.“ Nach den ersten Zeilen seines Songs, drehte er sich dem schräg links hinter der Bühne stehenden Gegenprotest erneut zu und schrie aus vollem Hals: „Ihr sagt mir, ich bin rechtsextrem, wollt ihr mich wirklich hetzen sehen“. Das Lied endet mit einer mehrfachen Wiederholung der Zeile „Jetzt ist Zeit für Widerstand, welche vom euphorisch zum Beat wippenden Publikum laut mitgeschrien wurde. Bedenkt man, dass diese Zeilen im Musikvideo durch Bilder von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei – worunter auch mindestens eine Szene ist, bei der Hooligans versuchen, eine Polizeikette zu durchbrechen – visuell unterlegt sind, wird klar, dass die am selben Tag so oft wiederholten Begriffe „Liebe“, „Frieden“ und „Freiheit“ zu leere Worthülsen verkommen, welche die Bewegung vor dem Label „rechtsextrem“ immunisieren soll. Gleichzeitig wird der Begriff „rechtsextrem“ durch die Aneignung und positive Aufladung weichgewaschen. Durch die Fokussierung auf diesen wird die von einigen Seiten geäußerte Kritik an den verschwörungsideologischen Momenten und antidemokratischen Tendenzen der Bewegung ausgeblendet. Eine ähnliche Strategie ließ sich bei der Performance eines Teils der Rapbellions am 06. August 2022 im Mauerpark beobachten. Einer der beiden Rapper distanzierte sich zunächst „von jeglicher Art von Extremismus“, nur um Sekunden später „Wir sind N.A.Z.I.“ zu rappen.


Betrachtet man die Social Media Auftritte der beteiligten Akteure wird deutlich, welche der unterschiedlichen Ästhetiken für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt ist und welche nicht. Dies erklärt auch, warum es immer wieder zu Versuchen kommt, Pressearbeit einzuschränken. Ziel ist nicht, die Identität der Beteiligten zu schützen, sondern die Außendarstellungen der Bewegung zu kontrollieren.



Selbsterhöhung durch Aneignung


Neben Eigenkompositionen werden auch bekannte Widerstandslieder oder Songs mit gesellschafts- und sozialkritischen Inhalt auf Corona-Protestveranstaltungen in umgetexteten Fassungen gespielt. Beispielsweise wurde wiederholt das chilenische Widerstandslied „El pueblo unido“ („Das vereinte Volk“) performt, welches zum Symbol des Widerstands gegen den Diktator Augusto Pinochet nach dem Putsch des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende 1973 wurde. Weitere Songs, die auf Corona-Protesten zu hören waren, sind „Hurra, die Welt geht unter“ von K.I.Z, „Freiheit“ von Westernhagen, „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben oder die italienische Partisanenhymne „Bella Ciao“. Die Aneignung dieser Lieder ist der Versuch, sich in die Tradition dieser Bewegungen und Künstler:innen zu stellen, um sich als Widerstandskämpfer:innen zu inszenieren, die für die gerechte Sache kämpfen. Eine Strategie, die auch durch die Übernahme von bekannten linken Demosprüchen zu beobachten ist.


In dieser Aneignung schwingt eine Selbsterhöhung mit, die auch im Song „In Frieden“ von Morgaine und dem ebenfalls in Wien lebenden Rapper Äon zu erkennen ist. Darin heißt es:


Wir haben kein Grund mehr mitzuspielen / Wir kommen in Liebe und von mir aus können sie schießen / Geboren im Krieg, doch gegangen im Frieden.


Im Musikvideo zum Song werden Videoaufnahmen von unterschiedlichen Protesten (EndeGelände, HambiBleibt, Standing Rock, SeaShepard, Stopp Air Base Ramstein, Friday for Future, Anonymous for the Voiceless) gezeigt. Den dahinterstehenden Gruppen, wird am Ende des Videos eine Danksagung gewidmet: „DANKE, für euren Aktivismus, zivilen Ungehorsam und mutigen Einsatz für eine bessere Welt.“ Einige der hier genannten Gruppen werden diese Erwähnung wohl eher mit Befremden zur Kenntnis nehmen.



Stimme der Unterdrückten – Motivation und Selbstverständnis der Corona-Protestmusiker:innen


Die musikalischen Darbietungen sind so heterogen wie die Bewegung selbst. Auf den Bühnen zeigt sich ein buntes Nebeneinander an Musikrichtungen: Deutsch-Rap, Eso-Pop, Singer-Songwriter, Ballermann-Schlager. Die Toleranz gegenüber „jeglicher Meinung“ innerhalb der Bewegung, scheint sich auch auf die musikalische Ebene zu übertragen. Die Qualität ist dabei – den schiefen Tönen vieler Darbietungen nach urteilend – eher Nebensache.


Die Verbindung zwischen Protest und Musik war schon ein Kennzeichen der Montagsmahnwachen 2014. Einige der Akteure von damals sind auch gegenwärtig auf den Corona-Demonstrationen aktiv. Diese bewegen sich schon seit Jahren in verschwörungsideologischen Kontexten, wodurch von einer weitestgehend gefestigten Ideologie ausgegangen werden kann. Andere treten dagegen erst seit der Pandemie öffentlich in Erscheinung. In den letzten Monaten bildete sich ein fester Kern an Akteuren heraus, die die Proteste bundesweit musikalisch bespielen. Hinter diesem Engagement können unterschiedliche Motivationen erkannt werden.


Viele der Akteure, die vor und hinter den Kulissen der Corona-Proteste aktiv sind, kommen aus der Kulturbranche. Bevor Bründel die „Freedom Parade“ gründete, trat er als DJ und Mitorganisator von Fetisch-Partys (z.B. im Berliner Kit Kat Club) auf. Björn Winter alias Björn Banane arbeitete vor der Pandemie als Sänger und DJ und veranstaltete Events auf Mallorca. Nachdem ihnen dies durch die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie nicht mehr möglich war, schienen ihnen die Protestveranstaltungen nicht nur eine Plattform zur Äußerung von politischen Positionen, sondern auch für ihre Selbstdarstellung zu bieten.


Auffällig ist, dass bei vielen der Akteure eine Überschneidung zwischen ihrer Rolle als Künster:in und Aktivist:in besteht. Personen, die eigentlich eine organisierende Position innehaben, treten ebenfalls als Musiker:innen auf. Musiker:innen äußern wiederum während ihren Auftritten politische Aussagen und Appelle.


„Wir wollen beide Seiten bei jedem Krieg verstehen. Zurück zur Diplomatie. Zurück zum Verhandlungstisch. Legt eure Waffen nieder!“

Rocksänger Ben Arslan auf dem „Friedens-Fest“ am 04.06.2022


Kilez More und Morgaine sorgten schon auf den Mahnwachen 2014 für musikalische Unterhaltung. In einem Interview mit dem rechten Medienaktivisten Hagen Grell am 12. Mai 2014 sagte Kilez More, dass er mit seiner Musik „das utopische Ziel“ verfolge, die Welt zu verändern. Er wolle alles tun, „um auf Themen hinzuweisen, um die Stimme der Unterdrückten zu sein“. Morgaine begründet ihre Motivation im gleichen Interview damit, dass sie Menschen berühren möchte, sie „möchte die Menschen mit [ihren] Texten zum Nachdenken anregen, auch gerade was kritische Themen angeht.“ Ein Blick auf ihre Website zeigt, dass sie sich heute sogar noch höhere Ziele gesteckt hat. Dort ist zu lesen: „Ihr Schaffen ist dem Weltfrieden gewidmet.“ Kilez More und Morgaine verstehen sich offenbar nicht nur als Musiker:innen, sie sind Aktivist:innen, die die Musik als Sprachrohr nutzen.


Ein ähnliches Selbstverständnis ist auch bei dem Sänger Ben Arslan zu erkennen, der auf den Protesten für seine wenig aussagekräftigen Texten über „weltweiten Frieden und Gerechtigkeit“ bejubelt wird. Auf seiner Website steht, dass er „nicht nur gesellschaftskritische Lieder“ schreibt, sondern „seit der großen Krise“ „auch politische Texte für sich in Anspruch“ nimmt und „mittlerweile vor 50.000 Menschen als Protest Musiker performt“ und zu „so etwas wie [dem] Sänger der Friedensbewegung“ geworden ist.


Im Kontext der Corona-Proteste kann Musik jedoch auch viel bescheidenere Funktionen erfüllen. Die Sängerin Zulia, welche auf Corona-Protestveranstaltungen gelegentlich mit dem Rapper Lui Koray auftritt, erklärt in der Dokumentation Revolutionslobbyismus von 2022, dass sie „ohne die Musik, die [sie] gemacht habe auf den Demos“, die Corona-Zeit „vielleicht nicht so gut überlebt“ hätte.


Lui Koray, der sich selbst als „systemkritischer Künstler“ und „Friedensaktivist“ bezeichnet, erklärt in derselben Dokumentation, er „habe [...] festgestellt, wie mächtig Musik in dieser Zeit ist, viel mächtiger als jede rationale Kommunikation. Weil die Leute hören in der Frequenz der Stimme, wenn man frei singt, dass es einem gut geht und dass man auf unserer Seite keine Angst haben muss, dass es einem schlecht geht, sondern dass bei uns eigentlich die Menschheitsfamilie wartet und dass wir alle durch die Krise durchkommen“. Musik wird also als Zufluchtsort betrachtet, an dem man der Realität entfliehen kann.


Welche Kraft Musik für viele der Beteiligten hat, ist auch in einer Äußerung von Sebastian Victor, einem weniger bekannten Musiker der Szene, zu erkennen. Er schwärmt von der „Resonanz“, die er bei den Demonstrant:innen erfährt, wenn er „spielend aus einer Straßenbahn in den Demozug“ läuft und „alle jubeln und man einfach mitbekommt, wie gut den Menschen das tut, dass wir spielen.“


Diese Resonanzerfahrung kann insbesondere bei Musiker:innen, die im Kontext der Corona-Proteste zum ersten Mal im Mittelpunkt stehen, zur Radikalisierung führen. Ein Beispiel dafür, wie die Corona-Proteste einer Person zu Aufmerksamkeit und Ruhm verhelfen können, ist Thomas Brauner: Vor der Pandemie arbeitete er als Busfahrer, heute tritt er regelmäßig mit Björn Banane auf Corona-Protesten auf.


Giovanna Winterfeldt, welche bis vor Kurzem als Mitorganisatorin von „friedlich zusammen“ in Erscheinung trat, veröffentlichte Anfang 2022 mit dem Rapper SchwrzVyce den Song „Spaziergang“. Winterfeldt ist ausgebildete Sängerin, die vormals als Backgroundsängerin mit Sarah Conner und Roland Kaiser auf der Bühne stand. Auf mehreren Internetseiten ist sie als Frontsängerin der eher unbekannten Band „Eternal Quest“ gelistet. In den vier Musikvideos der einzigen gleichnamigen Band auf YouTube ist sie jedoch nicht zu sehen. Bekannter dürfte sie für ihre Arbeit als Synchronsprecherin sein. Während nicht auszuschließen ist, dass ihre Beteiligung an den Protesten gegen den Infektionsschutz ihrer Karriere in der Filmindustrie geschadet haben könnte, bieten die Proteste ihr nichtsdestoweniger die Möglichkeit, als Sängerin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Ihr Duettpartner SchwrzVyce, trat ebenfalls das erste Mal als Musiker mit seinem Song „Fake News Media“ im Kontext der Pandemie öffentlich in Erscheinung.


Ähnliches gilt für Nina Maleika, die in der Vergangenheit unter anderem als Backgroundsängerin für Udo Lindenberg arbeitete. Maleika ist in den letzten Monaten ein fester Bestandteil der Protestveranstaltungen geworden. Ihr Auftritt mit Lui Koray auf dem „Friedens-Fest“ am 04. Juni 2022 zeigt eine weitere Motivation der Corona-Protestmusiker:innen. Maleika betont, wie wichtig das Publikum für die Musiker:innen sei, ohne das sie „diese Kunst“ nicht machen könnten, „ihr seid die neue Weltordnung für uns Künstler, ihr müsst unsere CD's bitte kaufen, ihr müsst auf unsere Konzerte kommen, ihr müsst unsere Bücher kaufen, weil sonst können wir die Scheiße auf lange Sicht nicht weiter machen.“


Morgaine und Äon merkten zwar am 02. Juli 2022 im Friedrichshain an, dass sie für ihren Auftritt keine Gage erhielten. Neben dem Verkauf von Merchandise sind die Veranstaltungen jedoch vor allem ein wichtiges Element, um ihr Image als Friedensaktivist:innen zu stärken und können daher als Vermarktungsvehikel verstanden werden. Musiker:innen, die sich gleichfalls als Aktivist:innen verstehen, profitieren von Krisen und haben ein Interesse daran, dass die Bewegung wächst. Dies gilt insbesondere dann, wenn es für sie aufgrund ihrer Ideologie abseits der Corona-Proteste immer schwieriger wird, aufzutreten.


Fazit


Die musikalischen Protestveranstaltungen boten Künstler:innen unter Infektionsschutzmaßnahmen die Möglichkeit, weiter aufzutreten und sorgten so für ein Gefühl von Normalität. Sie sind ein Ort, an dem ihre Ansichten nicht nur toleriert, sondern gefeiert werden. Für einige bieten sie die Chance, das erste Mal auf einer Bühne im Mittelpunkt zu stehen, für andere von der zweiten in die erste Reihe zu treten. Bei Musiker:innen, die schon seit Jahren auf Protestveranstaltungen auftreten, ist die Verzahnung zwischen Musik und Protest kaum aufzuheben. Für neuere Akteure besteht im nicht gekannten Ruhm die Gefahr der Radikalisierung. In jedem Fall gilt, die Rolle als „Protest-Musiker:in“ birgt das Potential, sich über die Kunst hinaus Bedeutung zu geben – insbesondere bei mittelmäßigem Talent.


Für die Protestbewegung spielt Musik eine wichtige Rolle, daher scheint eine Beteiligung der Musiker:innen ohne ideologischen Unterbau kaum vorstellbar. Es ist nicht auszuschließen, dass der Ruf nach Frieden und Freiheit bei einigen auch einer ehrlichen Motivation entspringt. Dieser Wunsch verkehrt sich durch eine verkürzte und zutiefst realitätsferne Gesellschaftsanalyse in sein Gegenteil.


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