Auf der Coronademonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 13. März 2021 haben wir die Reproduktion der antisemitischen und rassistischen Verschwörungserzählung um den angeblichen “Kalergi-Plan” dokumentiert. Es war das erste Mal, dass wir die Verbreitung dieser Verschwörungserzählung im Kontext der Coronademos beobachtet haben. Darum nutzen wir dies zum Anlass, um über den Mythos und seine Hintergründe aufzuklären.
Den Ausgangspunkt der Verschwörungserzählung vom angeblichen “Kalergi-Plan” bildet die Idee eines “Pan-Europas” des japanisch-österreichischen Schriftstellers, Philosophen und Politikers Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894-1972). Seine Vorstellungen von einem geeinten europäischen Staatenbund waren wegweisend für die Entwicklung der Europäischen Union und führten 1924 zur Gründung der Paneuropa-Bewegung, der ältesten noch bestehenden europäischen Einigungsbewegung.
In seinen programmatischen und philosophischen Schriften führte Kalergi seine Gedanken zu politischen und wirtschaftlichen Vorteilen eines europäischen Bundes aus, schilderte aber auch seine Visionen von den Menschen der Zukunft, die nicht mehr durch Ländergrenzen und Ethnien getrennt und folglich auch nicht mehr in rassistischer Manier auf diese reduziert würden, sondern sich nur noch durch Charaktere und Persönlichkeiten voneinander unterschieden.
Von den Nazis verfemt, wurde Coudenhove-Kalergi ins Exil getrieben und die Paneuropa-Bewegung zwischenzeitlich verboten. Die NS-Propaganda gegen ihn sowie einige dekontextualisierte Aussagen Coudenhove-Kalergis führten dazu, dass sich nach 1945 eine Reihe von Mythen um einen geheimen Plan formierten, den Coudenhove-Kalergi angeblich geschmiedet habe und der bis heute verfolgt würde.
Ein zentraler Bestandteil dieser Mythen ist die Behauptung, Coudenhove-Kalergi hätte mit seinem Plan die “Heranzüchtung” einer “eurasisch-negroiden Zukunftsrasse” unter der Führung einer jüdischen “Adelsrasse” angestrebt. Als vermeintlicher Beweis für diese Behauptung werden bis heute Zitate Coudenhove-Kalergis falsch paraphrasiert und aus ihren Kontexten gerissen, obwohl ihre fehlerhafte Wiedergabe wiederholt belegt wurde.
Die Mythen um den geheimen Plan Coudenhove-Kalergis kursieren in rechtsextremen und rechtspopulistischen Kreisen und werden mit den antisemitischen Verschwörungserzählungen um den “Großen Austausch” und die “NWO” (New World Order) verbunden. Demnach solle die weiße Mehrheitsgesellschaft in Europa mit muslimischen und nicht-weißen Einwander:innen durchmischt bzw. durch diese ausgetauscht werden.
Mit der Vorstellung des Bevölkerungsaustauschs geht oftmals auch das Verschwörungsideologem eines vermeintlichen geplanten Genozids an den “Weißen” einher. Verantwortlich für diesen Plan seien die “jüdischen Eliten”, die damit die Schaffung eines europäischen Zentralstaates verfolgten, deren Einwohner:innen durch einen gleichgeschalteten Genpool geschwächt und damit leicht unterdrückt und ausgebeutet werden könnten.
In diesem verschwörungsideologischen Weltbild gelten die Bemühungen der EU um eine länderübergreifende europäische Identität, die deutsche Migrationspolitik oder die Auszeichnung der Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem “Coudenhove-Kalergi-Europapreis” im Jahr 2010 als Bestätigungen dafür, dass Regierungen und Politiker:innen in Europa den Verschwörungsplan zusammen mit den vermeintlichen jüdischen Eliten vorantrieben.
Der Terminus “Kalergi-Plan” wurde vermutlich von dem österreichischen Neonazi und verurteilten Holocaustleugner Gerd Honsik 2003 geprägt. In seiner Auslegung steht der “Kalergi-Plan” in der unmittelbaren Tradition der “Protokolle der Weisen von Zion”, bei denen es sich um eine der wirkungsvollsten und meist verbreitetsten antisemitischen Verschwörungserzählungen handelt. Sie hat ebenfalls ein vermeintliches jüdisches Weltherrschaftbestreben zum Thema.
Dass die Verschwörungserzählung vom “Kalergi-Plan” nun auch Eingang in die Demonstrationen gegen die Coronaschutzmaßnahmen der Bundesregierung gefunden hat, verdeutlicht, wie anfällig dieses Milieu für Verschwörungsglauben ist. Ebenfalls zeigt sich hieran beispielhaft, wie schnell sich einzelne verschwörungsideologische Elemente wie das der “Bill-Gates-Verschwörung” oder der “Merkel-Diktatur” zu einer kompletten, destruktiven Weltsicht entwickeln können.
Des weiteren zeigt auch diese Verschwörungserzählung, wie tief verankert antisemitische Glaubenssätze und Stereotype z.T. bei den Demonstrierenden sind. Durch die Verbreitung und Verstetigung antisemitischer Verschwörungserzählungen auf den Coronademonstrationen entstehen für Jüdinnen und Juden konkrete Gefahren, mit derart besetzten Feindbildern assoziiert, diskriminiert und angegriffen zu werden. Durch die Verschwörungserzählung vom “Kalergi-Plan” werden außerdem fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments geschürt.