Am 25. Mai 2020 wurde George Floyd, ein 46-jähriger Afroamerikaner, von weißen Polizisten in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota ermordet. Die extreme Polizeibrutalität und der Rassismus in den Vereinigten Staaten fordern regelmäßig Opfer unter der Schwarzen Zivilbevölkerung. Auch diesmal gab es in zahlreichen Städten der USA Demonstrationen unter dem Motto „Black Lives Matter“. Anders jedoch als bei den letzten tödlichen Polizeieinsätzen gegen Schwarze entwickelte sich daraus diesmal eine globale Protestbewegung, die auch in Deutschland in vielen Städten Tausende auf die Straße brachte, um sich zum einen mit den Betroffenen von anti-schwarzem Rassismus zu solidarisieren und andererseits auf die rassistischen Zustände in Deutschland aufmerksam zu machen. Denn auch hier starben in den vergangenen Jahren zahlreiche Menschen durch Rassismus und Polizeibrutalität.
Am Samstag, den 6. Juni 2020, versammelten sich aus diesem Anlass schätzungsweise allein in Berlin am Alexanderplatz weit mehr als 15.000 Menschen, um bei einem Silent Protest zu demonstrieren. Der gesamte Platz war überfüllt, so dass eine Vielzahl an Menschen auch die Nebenstraßen besetzten und die Polizei das gesamte weitläufige Areal um den Alexanderplatz absperren musste. Aufgerufen dazu hatten mehrere antirassistische Initiativen und Einzelpersonen. Auch jüdische Gruppen hatten zur Teilnahme aufgerufen. Am Rande demonstrierte die rechtsextreme NPD mit einem perfiden Plakat mit der Aufschrift „White Lives Matter“. An der erst einen Tag zuvor angekündigten Kundgebung nahmen knapp 10 Personen teil.
Eine Geschichte gemeinsamer Kämpfe: Schwarze und jüdische Communities in den USA
Die Verbundenheit von jüdischen Gemeinden und Organisationen mit der Schwarzen Community hat, vor allem in den USA, eine lange Tradition, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Bereits bei der Gründung der ältesten Schwarzen Bürgerrechtsbewegung, der NAACP, im Jahr 1911, waren Juden*Jüdinnen beteiligt. In den folgenden Jahrzehnten intensivierte sich die Zusammenarbeit der beiden Minderheiten in den USA, die jeweils Ausgrenzungen erfuhren. Die Zusammenarbeit geschah aber nicht nur auf politischer Ebene. Auch Unternehmen, Vereine, Kirchen und Synagogen kooperierten in allen Bereichen des öffentlichen wie privaten Lebens. In den jüdischen Geschäften gab es schon früh keine getrennten Toiletten und Waschräume mehr, in ländlichen Gegenden waren jüdische Geschäfte die einzigen, die für Afroamerikaner*innen offenstanden und jüdische Geschäftsleute hatten oft nur afroamerikanische Kund*innen.
Insbesondere in den ländlichen Gebieten waren sowohl jüdische als auch Schwarze US-Amerikaner*innen immer wieder Angriffen des Ku Klux Klans und Anhänger*innen der White Supremacy ausgesetzt. Lokale und bundesweit gültige Gesetze diskriminierten Schwarze und Juden*Jüdinnen auch auf institutioneller Ebene. Denn die Vereinigten Staaten verstanden sich bis zur Mitte des 20. Jahrhundert vor allem als weißes, christlich geprägtes Land.
Die gemeinsamen Erfahrungen der Ausgrenzung und Stigmatisierung änderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch massiv. Während Juden*Jüdinnen sozial und wirtschaftlich aufstiegen, blieben Afroamerikaner*innen weiterhin Bürger*innen zweiter Klasse, obwohl viele junge Schwarze als Angehörige der US-Streitkräfte an allen Fronten für die Befreiung Europas und Asiens kämpften und ihr Leben ließen. Statt eines begeisterten Empfangs schlug vielen Afroamerikaner*innen Gewalt entgegen, besonders in den Südstaaten der USA. Viele heimgekehrte Schwarze Soldaten wurden durch weiße Lynchmobs ermordet.
Einem Großteil der jüdischen Bevölkerung war dieser Umstand bewusst. Sie engagierten sich trotz ihrer Besserstellung für ihre nicht-weißen Mitmenschen und kämpften Seite an Seite gegen Rassismus, insbesondere in den Südstaaten, wo seit Ende des Bürgerkriegs 1865 eine Zwei-Klassen-Gesellschaft installiert wurde, die die Schwarze Bevölkerung systematisch benachteiligte. Für jüdische Einwanderer*innen aus Europa, die ihre Heimat aufgrund von Ausgrenzung, Hass und Diskriminierung verließen, waren die Zustände, in denen ihre Mitmenschen leben mussten entsetzlich. Schilder, die Restaurants, Parkbänke und Toiletten nur für Weiße kennzeichneten, erinnerten Juden*Jüdinnen an die Aufschrift „Nur für Arier“, mit der in Deutschland die gleichen Orte während der NS-Zeit ausgewiesen waren. Segregation und die „Nürnberger Rassegesetze“ waren für sie Rassismus gleichen Ursprungs. Tatsächlich dienten die sogenannten „Jim-Crow-Gesetze“ als Vorbild für die Nürnberger Gesetze. Für die europäischen Juden*Jüdinnen war es deshalb auch ein antifaschistischer Kampf, den sie aus ihrer alten Heimat nun in den USA fortführen mussten. Religiöse Vertreter*innen der jüdischen Gemeinden beriefen sich bei ihrem Protest auf die jüdische Lehre, um gegen die rassistischen „Jim Crow“ Gesetze zu argumentieren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Die 𝘈𝘯𝘵𝘪-𝘋𝘦𝘧𝘢𝘮𝘢𝘵𝘪𝘰𝘯 𝘓𝘦𝘢𝘨𝘶𝘦 (ADL) und das 𝘈𝘮𝘦𝘳𝘪𝘤𝘢𝘯 𝘑𝘦𝘸𝘪𝘴𝘩 𝘊𝘰𝘮𝘮𝘪𝘵𝘦𝘦 (AJC), die gegen Antisemitismus in der US-amerikanischen Gesellschaft kämpften, erweiterten ihren Fokus nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf generelle Formen von Ausgrenzung und Rassismus und unterstützten ganz aktiv und offen den Kampf der Afroamerikanischen Community gegen Diskriminierung und arbeiteten eng mit der NAACP zusammen. Die jüdischen Organisationen forderten bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mehrheitlich die Abschaffung der Segregation und die Strafverfolgung der sogenannten Lynchmorde, die vielerorts in den Südstaaten noch als legale Praxis der Bestrafung galten und nahezu ausschließlich Schwarze betrafen.
Der juristische Erfolg vor dem Supreme Court, als 1954 im Fall „Brown vs. Board of Education“ die Segregation offiziell als diskriminierende Praxis verurteilt wurde, änderte zunächst nichts an den Lebensbedingungen der Schwarzen Bevölkerung. Behörden und Regierungen der einzelnen Südstaaten verweigerten die Abschaffung der Jim-Crow-Gesetze. Vielerorts entstanden als Folge neue Hassgruppen und der Ku Klux Klan gewann an neuem Einfluss. Aber auch die afroamerikanische Gemeinschaft schloss sich zusammen und wollte die ihnen zustehenden Rechte erkämpfen. Mit Beginn der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King, Jr. ab Mitte der 1950er Jahre waren auch Juden*Jüdinnen von Anfang an beteiligt. Als Rechtsanwält*innen, Strateg*innen und Finanziers halfen sie bei Protesten und der Vermittlung zwischen Aktivist*innen und der Regierung. Die Mehrheit der weißen Unterstützer*innen waren vielerorts Juden*Jüdinnen gewesen, die vor allem aus den Nordstaaten anreisten. In der afroamerikanischen Community hat sich in dieser Zeit eingeprägt, dass Juden*Jüdinnen die natürlichen Verbündeten sind im Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung.
Es gab aber auch differenzierte Positionen. Das lag vor allem in den Südstaaten an der Angst der Sichtbarwerdung der kleinen jüdischen Gemeinden. Hier saß die Angst tief, sich für die Schwarzen Mitmenschen einzusetzen, würde Antisemitismus innerhalb der rassistischen White Supremacy hervorrufen. Die Angst war nicht unbegründet. Schnell wurden Juden*Jüdinnen vorgeworfen, hinter der Bürgerrechtsbewegung zu stecken und die eigentlichen Initiator*innen zu sein. Als Folge gab es immer mehr Bedrohungen und antisemitische Angriffe. Allein 1958 kam es zu acht Bombenanschlägen auf jüdische Einrichtungen. Jüdische Unterstützer*innen wurden gezielt körperlich angegriffen oder ermordet. Auf Todeslisten von weißen Hassgruppen waren explizit Juden*Jüdinnen zu finden. Die Unterstützung für die Schwarze Bürgerrechtsbewegung löste jedoch den Antisemitismus nicht erst aus, sondern gab den Vorwand, diesen offen auszuleben. Vergleiche mit früheren Aussagen der Wortführer*innen und Schriften der White Supremacy zeigten, dass der Hass auf Juden*Jüdinnen bereits tief in deren Weltbild verankert war.
Trotz der Zunahme von Antisemitismus ließen sich die meisten jüdischen US-Amerikaner*innen jedoch nicht von ihrer Unterstützung für ihre Schwarzen Mitbürger*innen abbringen. Auf den Friedensmärschen von Selma nach Montgomery als auch im „Mississippi Freedom Summer“ 1964 waren der Großteil der weißen Teilnehmenden jüdisch. In den vordersten Reihen liefen Rabbiner Seite an Seite mit den Führern der Bürgerrechtsbewegung.
Martin Luther King, Jr. merkte noch kurz vor seiner Ermordung an, dass: „Every Negro leader is keenly aware, from direct and personal experience, that the segregationists and racists make no fine distinctions between the Negro and the Jew.“ Er war dankbar für die entschlossene Unterstützung durch jüdische Organisationen und erwiderte diese Solidarität wo immer möglich. Er kritisierte nicht nur den Antisemitismus der White Supremacy, sondern verurteilte auch den aus den eigenen Reihen, sprach sich gegen Antizionismus und für die Sicherheit Israels aus.
Die gemeinsamen institutionellen Ziele, wirtschaftlichen Motive und zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Schwarzen und Juden*Jüdinnen setzten entscheidende Beiträge für den Kampf um Gleichberechtigung.
Die heutige Situation
Zurück in die Gegenwart: Das Verhältnis zwischen Afroamerikaner*innen und Juden*Jüdinnen ist heute deutlich komplizierter. Der Einfluss radikal-islamischer Gruppen auf die Bürgerrechtsbewegung ab Mitte der 1960er Jahre, deren Ablehnung Israels heute von der durch die Bundesregierung als antisemitisch eingestuften BDS-Bewegung fortgeführt wird und die die Situation der palästinensischen Bevölkerung mit der der Schwarzen in den USA gleichsetzt, sorgt immer wieder für Konflikte und Anfeindungen. Nicht erst nach der Ermordung George Floyds behaupten antiisraelische Gruppen, die brutalen Polizeitaktiken wurden den US-Beamt*innen durch das israelische Militär vermittelt. Damit geben sie dem jüdischen Staat eine Mitschuld an den rassistischen Zuständen in den Vereinigten Staaten oder vergleichen diese mit der Situation im Nahen Osten. Auf der anderen Seite versuchen BDS und Co. immer wieder jüdische Gruppen aus Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus auszuschließen und sprechen ihnen das Recht ab zu demonstrieren, da sie vermeintlich, als per se privilegierte und koloniale Weiße bezeichnet, automatisch auf Seiten einer globalen, imperialen, kolonialrassistischen, weißen Gewalt stünden. Auch innerhalb der „Black Lives Matter“-Bewegung ist es immer wieder zu solchen Ausfällen und Ausschlüssen gekommen.
Extrem rechte Gruppen unterstellen indessen Juden*Jüdinnen, verantwortlich für die Ausschreitungen und Proteste nach der Ermordung Floyds zu sein. Die Muster dieser Verschwörungsmythen ähneln dabei denen, die bereits während der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre zu beobachten waren. Bekannte antisemitische Weltbilder, wie die des Drahtziehers, der seine nicht selbstdenkenden Marionetten ins Feld schickt, werden dabei reproduziert. Auf Twitter sind in einschlägigen Kanälen Behauptungen zu finden, dass angeblich einflussreiche jüdische Persönlichkeiten die „Black Lives Matter“-Demonstrant*innen bezahlen würden und diese die Menge zu Plünderungen animiert hätten. Ihr vermeintliches Ziel: Die verhasste US-Politik Donald Trumps weiter zu diskreditieren. Der Name der dabei besonders oft genannt wird ist Georg Soros, Lieblingshassfigur der extremen Rechten in Europa und den USA.
Die Wahrheit ist aber, dass sich bei den aktuellen Protesten gegen Rassismus sowohl in den USA als auch in Europa Juden*Jüdinnen beteiligen. Sie demonstrieren Seite an Seite mit den Betroffenen rassistischer Gewalt, helfen bei der Versorgung der Demonstrant*innen, rufen zu Protesten auf oder bieten ihre Unterstützung an. Die ADL erklärte ihre Solidarität mit der Schwarzen Community in ihrem Statement vom 30. Mai 2020 und wies zugleich auf den weit verbreiteten Hass in den USA hin. Schon seit Jahrzehnten erfasst die jüdische Organisation neben antisemitischen auch rassistische Übergriffe, vor allem auf Schwarze und lateinamerikanische US-Amerikaner*innen.
JFDA, Juni 2020
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