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Mit jedem Aufflammen des Konflikts im Nahen Osten hört man hierzulande wie auch andernorts immer wieder, dass man aufgrund des Verhaltens Israels schon nachvollziehen könne, warum Menschen etwas gegen Jüdinnen:Juden haben oder dass Israel durch seine Politik den Antisemitismus in der Welt verstärke. 

 

„Stop doing what Hitler did to you!“ ist in dieser Hinsicht eine gängige Aussage, die u.a. auf antiisraelischen Demonstrationen reproduziert wird. Die Absender:innen dieser Aussage kommen aus allen Teilen der Gesellschaft. Die Israelis seien nicht besser als die Nazis, heißt es da zum Beispiel, oder: Das Volk der Juden hätte gar nichts aus seiner eigenen Verfolgungsgeschichte gelernt und mache heute mit den Palästinenser:innen das, was seine Vorfahren unter den Nationalsozialist:innen erleiden mussten.

 

In diesen Aussagen schwingt eine implizite Schuldzuweisung mit. Nach dieser sind Jüdinnen:Juden aufgrund der israelischen Siedlungspolitik und des vermeintlichen Auftretens Israels als Aggressor im Nahost-Konflikt selbst verantwortlich dafür, dass man ihnen antisemitische Ressentiments entgegen bringt. Eine solche Erklärung ist ähnlich perfide wie das antisemitische und verschwörungsideologische Narrativ, Jüdinnen:Juden hätten eine Mitschuld am Holocaust. Solche Aussagen gehen mit mehreren Problematiken einher.

 

Zum Ersten verharmlosen derartige Narrative den Holocaust: Sie verfälschen also die Realität auf Kosten der rund 6 Millionen jüdischen Menschen, die während des Nationalsozialismus ermordet wurden.

 

Zum Zweiten stellen diese den Nahost-Konflikt in Ausmaßen und Relationen dar, die faktisch nicht gegeben sind. Sie tun dies u.a. auch dadurch, dass sie den Staat Israel als alleinigen Schuldigen in den jahrzehntelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen im Nahen Osten deklarieren. Die Tatsache, dass in Folge dieser Auseinandersetzungen auf seiten Israels ebenfalls zahlreiche Menschen getötet wurden und sich die israelische Regierung wiederholt gezwungen sah, die Bevölkerung des Landes vor militärischen Invasionen, massiven Raketenangriffen und anderen Terroranschlägen zu schützen, die unzählige zivile Verluste bedeutet hätten, wird dabei gänzlich außer Acht gelassen. Der Konflikt ist weitaus komplexer als es das weit verbreitete dichotome „David gegen Goliath-Narrativ“ vermittelt, bei dem sich die unterdrückten Palästinenser:innen von den unterdrückenden Israelis zu befreien versuchen. Eine solche vereinfachende Erklärung wird der Komplexität und Tiefe des Nahost-Konflikts nicht gerecht.

 

Zum Dritten machen diese Aussagen aus Opfern Täter:innen, indem sie Jüdinnen:Juden bzw. Israelis in einen unmittelbaren Vergleich zu den Nazis und deren Vernichtungspolitik setzen. Diese Täter-Opfer-Umkehr dient fast immer der Entlastung von einem eigenen Ressentiment gegenüber Jüdinnen:Juden oder der Abwehr eines Antisemitismus-Vorwurfs, wie man ihn u.a. aus der deutschen Geschichte oder aus einer politischen oder religiösen Ideologie ableiten könnte. 

 

Ein deutsches Spezifikum stellt der sekundäre Antisemitismus, auch Schuldabwehr-Antisemitismus genannt, dar: Dies ist der Fall, wenn Schuld- oder Schamgefühle für nationalsozialistische Verstrickungen in der eigenen – d.h. der familiären und/oder nationalen – Vergangenheit durch antizionistische bzw. antiisraelische Vorbehalte und einseitige Anklagen gegen die israelische Politik gedeckelt und umgeleitet werden. Solche Mechanismen greifen auch, wenn beispielsweise in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen der Schlussstrich unter der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands gefordert wird und die Verbrechen der Nazis relativiert werden. Anstelle des „Schuldkults“, wie die deutsche Erinnerungskultur von der politischen Rechten abschätzig bezeichnet wird, soll die schuldfreie und gleichsam stolze nationale Identität zelebriert werden. Der Vorwurf, dass ein solches Ausblenden der historischen Wahrheit oder gar ein Umschreiben derselben im Sinne des Geschichtsrevisionismus in Bezug auf den Holocaust antisemitisch ist, findet in einer Aussage wie „was die Israelis mit den Palästinenser:innen machen ist der eigentliche Holocaust“ eine vermeintliche Entkräftung. 

 

Neben dieser Schlussstrichforderung zugunsten eines ungetrübten Patriotismus oder der Umleitung von alten oder tradierten Schuldgefühlen, kann aber auch vorangiger Judenhass Grund dafür sein, warum Menschen in die Schuldabwehr gehen und ihren eigenen Antisemitismus bzw. den Vorwurf des Antisemitismus externalisieren. 

 

Antisemitismus wird nur selten direkt, dafür aber über Umwege, Codes und Chiffren geäußert. An die Stelle der „Juden“ als das personifizierte Unglück und die Wurzel alles Bösen treten seither synonyme Begriffe wie „die Zionisten“. Folglich wird nun über die genuin böse Essenz des israelischen Staates gesprochen. Indem Menschen ihre eigenen antijüdischen Gefühle und Vorurteile auf die angeblichen dämonischen Charakteristika des israelischen Staates und seiner Bewohner:innen projizieren, sprechen sie sich selbst von dem möglichen Vorwurf frei, antisemitisch zu sein. Sie machen die Adressat:innen ihres Antisemitismus gleichsam zu den Auslösern desselben, nach dem Paradoxon: Jüdinnen:Juden sind verantwortlich für Antisemitismus – und nicht Antisemit:innen.

 

An der fehlenden bzw. bewusst nicht getroffenen Differenzierung von Jüdinnen:Juden und Israelis lässt sich wiederum die Problematik festmachen, dass es aus antisemitischer Perspektive selten ausschließlich um jüdische Israelis oder gar nur die israelische Regierung geht. Vielmehr werden alle Jüdinnen:Juden in Kollektivschuld genommen. Seit der Antike und dem Gottesmordvorwurf hält sich das Motiv der jüdischen Kollektivschuld. Seitdem wurde es immer wieder zur Legitimation für antijüdische Ressentiments sowie für die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen:Juden herangezogen. Dies kann sich unmittelbar äußern und schwingt immer mit, wenn man Jüdinnen:Juden außerhalb Israels nötigt, sich zur israelischen Politik zu positionieren oder sie direkt für diese verantwortlich macht. Heute birgt dieses antisemitische Motiv konkrete Gefahren für Jüdinnen:Juden weltweit, wenn z.B. jüdische Menschen auf offener Straßen angegriffen oder Synagogen attackiert werden, weil gerade der palästinensisch-israelische Konflikt neu aufgebrochen ist.


An der Art und Weise, wie von wem über Israel berichtet wird und wie sich die sogenannte „Israelkritik“ äußert, kann man festmachen, dass hinter den antiisraelischen Ressentiments bzw. gar dem Hass gegenüber Israel oftmals nichts anderes steckt als das Ressentiment und der globale und seit Jahrhunderten existierende Hass gegenüber Jüdinnen:Juden. Einseitige Berichterstattungen oder gezielt antiisraelische Darstellungen dieses Konfliktes haben das Potential, antisemitische Gefühle und Einstellungen noch zu schüren bzw. antijüdische Vorbehalte zu (re)aktivieren. Hier schließt sich ein Kreis in der Betrachtung des Mythos, dass das Verhalten Israels gegenüber den Palästinenser:innen schuld am aktuellen Antisemitismus sei.

Das Verhalten Israels gegenüber
den Palästinenser:innen ist schuld
am aktuellen Antisemitismus.

MYTHOS 3

ANTISEMITISMUS AUFGEKLÄRT 

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