Antisemitismus ist ohne Zweifel einer der wichtigsten Bestandteile rechtsextremer Ideologie. Das war in der Vergangenheit so und das ist auch heute noch so. Im deutschen Kaiserreich sahen Rechtsextreme wie die sogenannte “völkische Bewegung” in Jüdinnen:Juden eine fremde “Rasse”, die nicht Teil des “deutschen Volkes” sei, sondern diesem feindselig gegenüberstehe und daher bekämpft werden müsse. Die Nazis vertraten einen radikalen, aggressiven und rassistischen Antisemitismus, der die Vernichtung aller jüdischen Menschen zum Ziel hatte und der in der Shoah, dem Massenmord an sechs Millionen europäischen Jüdinnen:Juden, grausam in die Tat umgesetzt wurde.
Auch heute noch zeichnet sich die extreme Rechte durch ein antisemitisches Weltbild aus. Jüdinnen:Juden werden als einflussreiche “Strippenzieher” angesehen, die angeblich hinter weltweiten Verschwörungen stecken und die treibende Kraft eines zerstörerischen Kapitalismus seien. Sie sind das zentrale Feindbild. Rechtsextreme schänden jüdische Friedhöfe, diffamieren den jüdischen Staat Israel und attackieren Jüdinnen:Juden wie 2019 in Halle (Saale).
Da scheint es nicht zu verwundern, dass ein Großteil der in Deutschland begangenen antisemitischen Straftaten rechten Täter:innen zugeordnet wird. Hier ist jedoch ein kritischer Blick auf die polizeiliche Kriminalstatistik wichtig. In dieser wurden nämlich bislang antisemitische Straftaten, für die keine Täter:innen ermittelt werden konnten, automatisch dem rechten Spektrum zugeordnet. Damit wird das Problem jedoch verzerrt und vereinfacht. Denn Hassparolen gegen Israel und antisemitische Übergriffe können z.B. auch von linken und/oder muslimischen Täter:innen ausgehen. Das zeigen Berichte von Betroffenen, journalistische Recherchen und wissenschaftliche Untersuchungen.
Zwar gehen antisemitische und rechtsradikale Einstellungen häufig Hand in Hand, doch auch in der politischen Linken und der Mitte finden sich antisemitische Ressentiments. Die antisemitische Boykott-Bewegung “BDS” (“Boycott, Divestment, Sanctions”), die auf die Zerstörung Israels abzielt, wird beispielsweise ebenso von rechtsradikalen Parteien wie NPD und “Der III. Weg” unterstützt wie von Islamist:innen und muslimischen Gruppierungen oder von linken bzw. linksliberalen Aktivist:innen, Akademiker:innen und Kulturschaffenden.
Auch antisemitische Gewalt und Terror gegen Jüdinnen:Juden kommt nicht immer von rechts. Heute geht ein großes Gewaltpotenzial vom politischen Islam und seinen radikalsten Vertreter:innen aus. Doch in den 1960er und 1970er Jahren beteiligten sich auch Akteur:innen der Neuen Linken an antisemitischen Terroraktionen gegen Israel. Am 9. November 1969, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, platzierte ein Mitglied der linksradikalen Gruppierung “Tupamaros West-Berlin” einen Sprengsatz im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße in Berlin-Charlottenburg. Der Sprengsatz explodierte zum Glück auf Grund einer Fehlfunktion nicht. Der Vorfall zeigt, dass Antisemitismus in Deutschland auch von der politischen Linken ausgeht.
Kann man also sagen, dass Antisemitismus ein Problem der politischen "Ränder" ist?
Nein, auch das stimmt so nicht. Die Annahme, dass verschiedene Formen von Demokratie- und Menschenfeindlichkeit ein Problem der politischen “Ränder” seien, fußt auf der sogenannten Extremismustheorie. Institutionen wie der Verfassungsschutz oder Polizeibehörden berufen sich ebenso auf die Extremismustheorie wie große Medien und Politiker:innen. Die “Theorie” besagt grob zusammengefasst, es gäbe eine demokratische Mitte der Gesellschaft, die durch die undemokratischen, extremen und gewaltbereiten Ränder bedroht würde. Neben einer Gleichsetzung der Gefahren von links und rechts erfüllt das Extremismuskonzept so zugleich eine Entlastungsfunktion für die vermeintlich unbescholtene Mitte. Menschenfeindliche Phänomene wie Rassismus und Antisemitismus werden so in gewisser Weise abgespalten und zumeist dem rechten Rand, bzw. im Falle von Antisemitismus beiden Rändern zugewiesen.
Die sogenannte Extremismustheorie wurde schon vielfach wissenschaftlich kritisiert und widerlegt, hat dadurch jedoch bislang wenig von ihrer Diskursmacht verloren. Eine der wichtigsten und aufschlussreichsten Kritiken an der Extremismustheorie kommt aus der Einstellungsforschung. Hier werden in repräsentativen und breit angelegten Studien die Einstellungen der Deutschen zu bestimmten Themen erforscht. Seit Jahren liefert die Einstellungsforschung wissenschaftliche Ergebnisse, die offensichtlich machen, dass der Mythos von den “extremistischen” Rändern und der demokratischen Mitte nicht haltbar ist – insbesondere nicht hinsichtlich gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Zustimmung zu antisemitischen Aussagen finden sich demnach bei Wähler:innen aller Parteien sowie Angehörigen aller gesellschaftlichen Schichten und Gruppen.
Die bekanntesten Beispiele der Einstellungsforschung in Deutschland sind die Bielefelder Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie die Mitte-Studie der Universität Leipzig. In den veröffentlichten Studien lassen sich unter anderem folgende Ergebnisse finden:
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Der Aussage »Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns« stimmen im Jahr 2018 knapp 30% der Deutschen zu (Decker, Brähler 2018: 74).
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Jeweils über 8% der CDU- und FDP-Wähler:innen neigen zu klassischem Antisemitismus, jeweils über 25% zu israelbezogenem Antisemitismus (Zick et al. 2019: 96f).
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Die Autor:innen der Studie schreiben: »Etwa 10% der Befragten aus der aktuellen Leipziger Autoritarismus-Studie stimmen traditionellen antisemitischen Aussagen ausdrücklich zu, zwischen 10% und über 50% äußern sich zustimmend zu antisemitischen Aussagen, wenn diese eine Umwegkommunikation ermöglichen.« (Decker, Brähler 2018: 212)
Der Mythos, dass Antisemitismus vor allem von den politischen “Rändern” ausgehe, ist somit nicht haltbar. Antisemitismus war immer und ist nach wie vor in der gesamten deutschen Gesellschaft verbreitet. Judenfeindschaft findet sich in allen Schichten, relativ unabhängig von Bildung und Einkommen. Sie ist bei Universitätsprofessor:innen und Bildungsbürger:innen ebenso anzutreffen wie bei Erzieher:innen, Krankenpfleger:innen oder Taxifahrer:innen.
Der Antisemitismus ist in den letzten Jahren stärker geworden. Judenfeindliche Äußerungen, auch von etablierten und anerkannten Politiker:innen, Journalist:innen und Kulturschafenden, haben dabei zur zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz und Normalisierung beigetragen.
Antisemitismus ist eine Integrationsideologie, die nicht nur von Islamisten, Neonazis und Rechtsextremen oder eben von linksradikalen Gruppierungen ausgeht, sondern verschiedenste weltanschauliche Milieus vereint und in allen Teilen der Gesellschaft existiert. Dies gilt es zu erkennen, um Judenfeindschaft entschieden entgegentreten zu können.
Antisemitismus geht vor allem
von den politischen "Rändern" aus.
ANTISEMITISMUS AUFGEKLÄRT